Forum für Anthroposophie, Waldorfpädagogik und Goetheanistische Naturwissenschaft
Home
 
Home


Home
Suchen
Vorträge
Rudolf Steiner

Veranstaltungen

Service-Seiten

Adressen
Ausbildung


Bücher
Bibliothek
Links

Link hinzufügen
Stellenangebote

FTP Download

Impressum

Email
http://bibliothek.anthroposophie.net

Timaios

Übersetzt von Franz Susemihl (1856)

Sokrates · Timaios · Kritias · Hermokrates

1 2 3 4 weiter >
Sokrates: Eins, zwei, drei - wo aber bleibt uns denn  der Vierte, mein lieber Timaios, von denen, welche  gestern bewirtet wurden, jetzt aber selber bewirten  sollen?

Timaios: Es hat ihn gewiß irgend eine Unpäßlichkeit  befallen, lieber Sokrates, denn aus freien Stücken  würde er wohl nicht aus dieser Gesellschaft wegbleiben.

Sokrates: Demnach dürfte es denn deine Aufgabe und die der Übrigen sein, hier auch die Stelle des Abwesenden auszufüllen?

Timaios: Gewiß, und wir werden es in nichts daran  fehlen lassen, soweit es in unseren Kräften steht.  Denn nachdem wir gestern von dir mit allem, was  sich geziemt, gastfreundlich bewirtet worden sind,  wäre es nicht recht, wenn wir anderen dich nicht  bereitwillig wiederbewirten wollten.

Sokrates: Nun denn, erinnert ihr euch noch, wieviel  und worüber ich euch zu sprechen aufgab?

Timaios: Zum Teil erinnern wir uns dessen noch; was uns aber entfallen ist, an das uns wieder zu erinnern bist du ja da. Oder lieber, wenn es dir nicht  lästig ist, wiederhole es uns von Anfang an in der  Kürze noch einmal, damit es sich besser in uns  befestige!

Sokrates: Das soll geschehen. Der Hauptinhalt meiner gestrigen Erörterungen über den Staat war ungefähr dieser, wie und aus was für Männern er sich  nach meiner Meinung am besten gestalten würde.

Timaios: Ja, und zwar ganz nach unser aller Sinne  stelltest du ihn dar.

Sokrates: Schieden wir nun nicht zuerst in ihm den  Beruf der Landbauer und alle andern Gewerbe von  der Klasse derer, denen die Kriegführung für alle  obliegen sollte?

Timaios: Ja.

Sokrates: Und indem wir je nach seiner Naturbeschaffenheit einem jeden nur die eine, ihm allein  angemessene Beschäftigung [und einem jeden nach  seiner Art sein Gewerbe] zuerteilten, erklärten wir,  daß diejenigen, welche für alle in den Krieg ziehen  sollten, auch nichts weiter als Wächter des Staates  sein dürften, wenn etwa einer von außen her oder  auch einer von den Einwohnenden käme, um ihm  zu schaden, und zwar so, daß sie dabei die von  ihnen Beherrschten als ihre natürlichen Freunde  milde richten, denen aber, welche ihnen in den  Schlachten als Feinde begegneten, hart zusetzen  sollten.

Timaios: Allerdings.

Sokrates: Denn die Seelen der Wächter müßten - so,  denke ich, sagten wir - eine gewisse zugleich willenskräftige, zugleich aber auch ganz vorzüglich  zur richtigen Erkenntnis hinstrebende Natur besitzen, damit sie gegen jeden von beiden Teilen mild  oder hart zu sein vermöchten.

Timaios: Jawohl.

Sokrates: Und dann, was ihre Erziehung anlangte,  sagten wir da nicht, daß sie im Turnen und in der  Tonkunst und in allen für sie erforderlichen Zweigen des Wissens gebildet werden müßten?

Timaios: Freilich.

Sokrates: Und wenn sie dann so gebildet wären - so  etwa fuhren wir fort -, sollten sie weder Gold noch  Silber noch überhaupt irgend etwas anderes jemals  als ihr ausschließliches Eigentum ansehen dürfen,  sondern als Beschützer von ihren Schützlingen für  deren Bewachung einen Sold von der Größe empfangen, wie sie zu einem mäßigen Leben hinreicht,  und sollten diesen dann gemeinsam mit einander  verzehren und zusammenspeisend mit einander  leben und ihr Streben durchaus allein auf die Tugend richten, von allen andern Geschäften aber befreit sein.

Timaios: Auch das ward so festgesetzt.

Sokrates: Und was dann ferner ihre Frauen anbetrifft,  so gedachten wir doch auch dessen, daß man nur  solche von ähnlicher Beschaffenheit ihnen  zugesellen dürfe, und daß man ihnen in bezug auf  den Krieg sowie auf die übrige Lebensweise allen  ganz die nämlichen Beschäftigungen zuerteilen  müßte.

Timaios: In dieser Weise ward auch dieses ausgemacht.

Sokrates: Was stellten wir denn ferner hinsichtlich  der Kinderzeugung fest? Doch das ist wohl schon  wegen der Ungewöhnlichkeit dessen, was darüber  angeordnet ward, leicht zu behalten, daß wir nämlich alles, was Ehen und Kinder anlangt, allen insgesamt gemeinschaftlich machten, indem wir Anstalten dafür treffen ließen, daß keiner jemals seine  Abkömmlinge vor denen der andern heraus erkennen könnte, sondern alle sie insgesamt als von gleicher Abkunft betrachten würden, nämlich als  Schwestern und Brüder, soweit sie innerhalb des  passenden Alters geboren wären, die aber ein Menschenalter vorher und noch weiter zurück Geborenen als Eltern und Großeltern, und die in absteigender Linie Geborenen als Kinder und Kindeskinder.

Timaios: Ja, und es ist dies, wie du sagst, leicht zu  behalten.

Sokrates: Damit sie nun aber gleich mit so vortrefflicher Naturanlage als möglich geboren würden, -  erinnern wir uns nicht, daß wir zu diesem Zwecke  festsetzten, es müßten die Vorsteher und Vorsteherinnen des Staates für die Schließung der Ehen vermittelst gewisser Lose die Einrichtung treffen, daß  die Guten und die Schlechten gesondert von einander beide mit Frauen von gleicher Beschaffenheit  zusammenkämen und daß so deswegen keine  Feindschaft unter ihnen entstände, indem sie vielmehr den Zufall als die Ursache der jedesmaligen  Verbindung ansähen?

Timaios: Wir erinnern uns dessen.

Sokrates: Und doch wohl auch dessen, daß wir feststellten, daß die Kinder der Guten aufgezogen, die  der Schlechten aber heimlich unter die übrigen Angehörigen des Staates verteilt werden müßten, und  wie die Staatsvorsteher dann die Heranwachsenden  zu beobachten und die Würdigen von ihnen wieder  in ihren Geburtsstand zurückzuversetzen, die Unwürdigen innerhalb dieses letzteren selbst aber in  den Platz dieser Wiederhinaufgerückten einzustellen hätten?

Timaios: Freilich.

Sokrates: Nun hätten wir denn wohl alles ebenso wie  gestern bereits wieder durchgegangen, soweit dies  für eine Wiederholung in den Hauptzügen erforderlich, oder vermissen wir, mein lieber Timaios, noch irgend etwas von dem Gesagten, was wir etwa  übergangen hätten?

Timaios: Nein, sondern gerade dies war sein Inhalt.

Sokrates: Hört nun ferner, wie es mir in bezug auf  diesen Staat, wie wir ihn entwickelt haben, geht:  Ich habe nämlich ungefähr dieselbe Empfindung  dabei, wie wenn einer schöne Tiere sieht, sei es  bloß gemalte, sei es auch wirklich lebende, die sich aber in Ruhe verhalten, und ihn dann das Verlangen ankommt, sie auch in Bewegung zu erblicken  und etwas von den Eigenschaften, welche belebten  Körpern zukommen, im Kampfe erproben zu  sehen. Ebenso also geht es mir mit dem von uns  entwickelten Staate. Denn gerne möchte ich jemanden darstellen hören, wie er diejenigen Kämpfe,  welche einem Staate zukommen, gegen andere  Staaten bestehen würde, indem er auf eine würdige  Weise zum Kriege geschritten wäre und nunmehr  während desselben das der in ihm herrschenden Erziehung und Bildung Entsprechende sowohl in der  Ausführung durch Taten als in der Verhandlung in  Worten dem jedesmaligen anderen Staate gegenüber leisten würde. Hierin nun, mein Kritias und  Hermokrates, bin ich mir selber bewußt, daß ich  niemals imstande sein werde, den Staat und die  Männer gebührend zu verherrlichen. Und was mich betrifft, so ist das kein Wunder; aber ich habe dieselbe Meinung auch von den vormaligen sowie von den jetzt lebenden Dichtern gewonnen: nicht als ob ich damit das Geschlecht der Dichter herabsetzen  wollte; vielmehr ist es jedem klar, daß alles, was zu der Klasse der nachahmenden Künstler gehört, dasjenige am leichtesten und besten nachahmen wird,  worin ein jeder auferzogen ward, und daß es dagegen für einen jeden schwer ist, dasjenige, was außerhalb seines Bildungskreises liegt, in den Taten,  noch schwerer aber, es in den Worten gut nachzuahmen. Das Geschlecht der Sophisten aber wiederum halte ich zwar für sehr erfahren in Reden und  vielen anderen schönen Dingen, fürchte aber, weil  es in den Staaten umherzieht und nirgends eigene  Wohnsitze hat, daß es unfähig sei, das Richtige zu  treffen, wenn es sich darum handelt, wieviel und  welcherlei wissenschaftliche und zugleich staatskluge Männer in Kampf und Schlachten, sowie in  der jedesmaligen Unterhandlung, in Tat und Wort  zur Ausführung bringen dürften. So bleiben denn  nur noch die Leute eures Schlages übrig, welche  beides zugleich, und zwar durch Anlage und durch  Bildung, sind. Denn Timaios hier ist aus dem italischen Lokris gebürtig, welches sich der vortrefflichsten Verfassung erfreut, steht keinem von seinen Landsleuten an Vermögen und Herkunft nach  und hat dabei einerseits die höchsten Ämter und  Ehrenstellen im Staate bekleidet, andererseits in  allem, was nur wissenschaftliches Streben heißt,  nach meinem Dafürhalten das Höchste erreicht.  Von dem Kritias aber wissen wir Athener es ja alle, daß ihm nichts von den Dingen, um welche es hier  sich handelt, fremd ist, und ebenso darf man es von der Naturanlage wie der Bildung des Hermokrates  glauben, daß sie ihnen allen gewachsen sei, da dies von so vielen Seiten bezeugt wird. Dies erwog ich  auch schon gestern, und als ihr mich daher batet,  das Wesen des Staates zu erörtern, so ging ich  gerne darauf ein, weil ich wußte, daß niemand geschickter als ihr, wenn ihr wolltet, dazu sein würde, die Fortsetzung hierzu zu liefern; denn darzustellen, wie der Staat zu einem seiner würdigen Kriege  schreiten und sodann in allem auf die ihm zukommende Weise handeln würde, dürftet ihr allein von  allen, die jetzt leben, geeignet sein. Nachdem ich  mich daher dessen entledigt, was ihr mir aufgetragen, trug ich euch denn hinwiederum das eben Erwähnte auf. Ihr nun setztet nach gemeinschaftlicher Beratung auf heute meine Gegenbewirtung durch  Reden fest, und da bin ich denn nun, gerüstet und  ganz gewärtig, sie zu empfangen.

Hermokrates: Und wir unsererseits, lieber Sokrates,  wie es schon unser Timaios hier sagte, werden es  gewiß an gutem Willen nicht fehlen lassen; auch  haben wir so wenig einen Vorwand, uns dem zu  entziehen, daß wir schon gestern, gleich als wir von hier in das Gastzimmer beim Kritias, wo wir wohnen, eingetreten waren, und noch vorher auf dem  Wege dahin, eben den betreffenden Gegenstand mit einander betrachtet haben. Da trug uns denn nun  unser Wirt eine Geschichte aus alter Überlieferung  vor, und - dieselbe, lieber Kritias, könntest du nun  auch dem Sokrates mitteilen, auf daß auch er mit  uns prüfe, ob sie zur Erfüllung des uns Aufgetragenen etwas Geeignetes enthält oder nicht.

Kritias: Das mag geschehen, wenn es auch den Timaios, als unsern dritten Gesprächsgenossen, also  gut dünkt.

Timaios: Ich bin damit einverstanden.

Kritias: So höre denn, Sokrates, eine gar seltsame,  aber durchaus wahre Geschichte, wie sie einst  Solon, der Weiseste unter den Sieben, erzählt hat.  Er war nämlich, wie bekannt, ein Verwandter und  vertrauter Freund meines Urgroßvaters Dropides,  wie er auch selber wiederholt in seinen Gedichten  sagt; meinem Großvater Kritias aber erzählte er bei irgend einer Gelegenheit, wie es dieser als Greis  wiederum mir mitteilte, daß es viele vor Alters von  unserem Staat vollbrachte bewunderungswürdige  Taten gäbe, welche durch die Länge der Zeit und  den Untergang der Menschen in Vergessenheit geraten wären; von allen aber sei eine die größte; und diese ist es, deren Andenken mir jetzt zu erneuern  geziemt, um sowohl dir meinen Dank abzutragen,  als auch zugleich die Göttin an ihrem gegenwärtigen Feste auf eine echte und gebührende Weise wie durch einen Lobgesang zu verherrlichen.

Sokrates: Wohlgesprochen! Aber was für eine Tat ist  denn das, die Kritias, obgleich sie der Überlieferung unbekannt ist, dir dennoch als eine in Wahrheit vor alters von dieser Stadt vollbrachte nach  dem Berichte des Solon mitteilte?

Kritias: So will ich denn diese alte Geschichte erzählen, die ich von einem nicht mehr jungen Manne  vernommen. Es war nämlich damals Kritias, wie er sagte, schon beinahe neunzig Jahre, ich aber so ungefähr zehn alt. Nun war gerade der Knabentag der  Apaturien, und was sonst jedesmal an diesem Feste gebräuchlich ist, geschah auch diesmal mit den  Kindern: Preise setzten uns nämlich die Väter für  den besten Vortrag von Gedichten aus. So wurden  denn viele Gedichte von vielen anderen Dichtern  hergesagt; namentlich aber trugen viele von uns  Kindern manche von denen des Solon vor, weil  diese zu jener Zeit noch etwas Neues waren. Da äußerte nun einer von den Genossen unserer Phratrie,  sei es, daß dies damals wirklich seine Ansicht war,  sei es, um dem Kritias etwas Angenehmes zu  sagen, es scheine ihm Solon sowohl in allen anderen Stücken der Weiseste als auch in bezug auf die  Dichtkunst unter allen Dichtern der edelste zu sein. Der Greis nun - denn ich erinnere mich dessen  noch sehr wohl - ward sehr erfreut und erwiderte  lächelnd: »Wenigstens, Amynandros, wenn er die  Dichtkunst nicht bloß als Nebensache betrieben,  sondern, wie andere, seinen ganzen Fleiß auf sie  verwandt und die Erzählung, welche er aus Ägypten mit hierher brachte, vollendet und nicht wegen  der Unruhen und durch alle anderen Schäden, welche er hier bei seiner Rückkehr vorfand, sich gezwungen gesehen hätte, sie liegen zu lassen, dann  wäre, wenigstens nach meinem Dafürhalten, weder  Homeros noch Hesiodos noch irgend ein anderer  Dichter je berühmter geworden als er.«

»Aber was für eine Geschichte war denn dies?«  fragte jener.

»Traun von der größten und mit vollem Rechte  ruhmwürdigsten Tat von allen, welche diese Stadt  vollbracht, von welcher aber wegen der Länge der  Zeit und des Unterganges derer, die sie vollbracht  haben, die Überlieferung sich nicht bis auf uns erhalten hat.«

»So erzähle mir denn vom Anfange an«, versetzte der andere, »was und wie und von wem Solon  hierüber Beglaubigtes gehört und es danach berichtet hat.«

»Es gibt in Ägypten«, versetzte Kritias, »in dem  Delta, um dessen Spitze herum der Nilstrom sich  spaltet, einen Gau, welcher der saïtische heißt, und  die größte Stadt dieses Gaus ist Saïs, von wo ja  auch der König Amasis gebürtig war. Die Einwohner nun halten für die Gründerin ihrer Stadt eine  Gottheit, deren Name auf ägyptisch Neith, auf griechisch aber, wie sie angeben, Athene ist; sie behaupten daher, große Freunde der Athener und gewissermaßen mit ihnen stammverwandt zu sein.  Als daher Solon dorthin kam, so wurde er, wie er  erzählte, von ihnen mit Ehren überhäuft, und da er  Erkundigungen über die Vorzeit bei denjenigen  Priestern einzog, welche hierin vorzugsweise erfahren waren, so war er nahe daran zu finden, daß  weder er selbst noch irgend ein anderer Grieche,  fast möchte man sagen, auch nur irgend etwas von  diesen Dingen wisse. Und einst habe er, um sie zu  einer Mitteilung über die Urzeit zu veranlassen, begonnen, ihnen die ältesten Geschichten Griechenlands zu erzählen, ihnen vom Phoroneus, welcher  für den ersten Menschen gilt, und von der Niobe,  und wie nach der Flut Deukalion und Pyrrha übrigblieben, zu berichten und das Geschlechtsregister  ihrer Abkömmlinge aufzuzählen, und habe versucht, mit Anführung der Jahre, welche auf jedes  einzelne kamen, wovon er sprach, die Zeiten zu bestimmen. Da aber habe einer der Priester, ein sehr  bejahrter Mann, ausgerufen: 'O Solon, Solon, ihr  Hellenen bleibt doch immer Kinder, und einen  alten Hellenen gibt es nicht!'

Als nun Solon dies vernommen, habe er gefragt:  'Wieso? Wie meinst du das?'

'Ihr seid alle jung an Geiste', erwiderte der Priester, 'denn ihr tragt in ihm keine Anschauung, welche aus alter Überlieferung stammt, und keine mit  der Zeit ergraute Kunde. Der Grund hiervon aber  ist folgender: Es haben schon viele und vielerlei  Vertilgungen der Menschen stattgefunden und werden auch fernerhin noch stattfinden, die umfänglichsten durch Feuer und Wasser, andere, geringere aber durch unzählige andere Ursachen. Denn was  auch bei euch erzählt wird, daß einst Phaïton, der  Sohn des Helios, den Wagen seines Vaters bestieg  und, weil er es nicht verstand, auf dem Wege seines Vaters zu fahren, alles auf der Erde verbrannte und  selber vom Blitze erschlagen ward, das klingt zwar wie eine Fabel, doch ist das Wahre daran die veränderte Bewegung der die Erde umkreisenden Himmelskörper und die Vernichtung von allem, was  auf der Erde befindlich ist, durch vieles Feuer, welche nach dem Verlauf gewisser großer Zeiträume  eintritt. Von derselben werden dann die, welche auf Gebirgen und in hochgelegenen und wasserlosen  Gegenden wohnen, stärker betroffen als die  Anwohner der Flüsse und des Meeres, und so rettet auch uns der Nil, wie aus allen andern Nöten, so  auch alsdann, indem er uns auch aus dieser befreit.  Wenn aber wiederum die Götter die Erde, um sie  zu reinigen, mit Wasser überschwemmen, dann  bleiben die, so auf den Bergen wohnen, Rinder- und Schafhirten, erhalten; die aber, welche bei euch in den Städten leben, werden von den Flüssen ins  Meer geschwemmt; dagegen in unserem Lande  strömt weder dann noch sonst das Wasser vom  Himmel herab auf die Fluren, sondern es ist so eingerichtet, daß alles von unten her über sie aufsteigt. Daher und aus diesen Gründen bleibt alles bei uns  erhalten und gilt deshalb für das Alteste. In Wahrheit jedoch gibt es in allen Gegenden, wo nicht  übermäßige Kälte oder Hitze es wehrt, stets ein  bald mehr, bald minder zahlreiches Menschengeschlecht. Nur aber liegt bei uns alles, was bei euch  oder in der Heimat oder in anderen Gegenden vorgeht, von denen wir durch Hörensagen wissen, sofern es irgendwie etwas Treffliches oder Großes ist  oder irgend eine andere Bedeutsamkeit hat, insgesamt von alters her in den Tempeln aufgezeichnet  und bleibt also erhalten. Ihr dagegen und die übrigen Staaten seid hinsichtlich der Schrift und alles  anderen, was zum staatlichen Leben gehört, immer  eben erst eingerichtet, wenn schon wiederum nach  dem Ablauf der gewöhnlichen Frist wie eine  Krankheit die Regenflut des Himmels über euch  hereinbricht und nur die der Schrift Unkundigen  und Ungebildeten bei euch übrigläßt, so daß ihr  immer von neuem gleichsam wieder jung werdet  und der Vorgänge bei uns und bei euch unkundig  bleibt, so viel ihrer in alten Zeiten sich ereigneten.  Wenigstens eure jetzigen Geschlechtsverzeichnisse, lieber Solon, wie du sie eben durchgingst, unterscheiden sich nur wenig von Kindermärchen. Denn  erstens erinnert ihr euch nur einer Überschwemmung der Erde, während doch so viele schon vorhergegangen sind; sodann aber wißt ihr nicht, daß  das trefflichste und edelste Geschlecht unter den  Menschen in eurem Lande gelebt hat, von denen du und alle Bürger eures jetzigen Staates herstammen,  indem einst ein geringer Stamm von ihnen übrigblieb; sondern alles dies blieb euch verborgen, weil die Übriggebliebenen viele Geschlechter hindurch  ohne die Sprache der Schrift ihr ganzes Leben hinbrachten. Denn es war einst, mein Solon, vor der  größten Zerstörung durch Wasser der Staat, welcher jetzt der athenische heißt, der beste im Kriege  und mit der in allen Stücken ausgezeichnetsten  Verfassung ausgerüstet, wie denn die herrlichsten  Taten und öffentlichen Einrichtungen von allen  unter der Sonne, deren Ruf wir vernommen haben,  ihm zugeschrieben werden.'

Als nun Solon dies hörte, da habe er, wie er erzählte, sein Erstaunen bezeigt und angelegentlichst  die Priester gebeten, ihm die ganze Geschichte der  alten Bürger seines Staates in genauer Reihenfolge  wiederzugeben.

Der Priester aber habe erwidert: 'Ich will dir  nichts vorenthalten, mein Solon, sondern dir alles  mitteilen, sowohl dir als eurem Staate, vor allem  aber der Göttin zu Liebe, welche euren sowie unseren Staat gleichmäßig zum Eigentume erhielt und  beide erzog und bildete, und zwar den euren tausend Jahre früher aus dem Salden, den sie dazu von der Erdgöttin Ge und dem Hephaistos empfangen  hatte, und später ebenso den unsrigen. Die Zahl der Jahre aber, seitdem die Einrichtung des letzteren  besteht, ist in unseren heiligen Büchern auf achttausend angegeben. Von euren Mitbürgern, die vor  neuntausend Jahren entstanden, will ich dir also  jetzt in kurzem berichten, welches ihre Staatsverfassung und welches die herrlichste Tat war, die sie vollbrachten; das Genauere über dies alles aber  wollen wir ein andermal mit Muße nach der Reihe  durchgehen, indem wir die Bücher selber zur Hand  nehmen. Von ihrer Verfassung nun mache dir eine  Vorstellung nach der hiesigen: denn du wirst viele  Proben von dem, was damals bei euch galt, in dem, was bei uns noch jetzt gilt, wiederfinden, zuerst  eine Kaste der Priester, welche von allen andern gesondert ist, sodann die der Gewerbetreibenden, von denen wieder jede Klasse für sich arbeitet und nicht mit den anderen zusammen, samt den Hirten, Jägern und Ackerleuten; endlich wirst du auch wohl  bemerkt haben, daß die Kriegerkaste hierzulande  von allen anderen gesondert ist, und daß ihr nichts  anderes, außer der Sorge für das Kriegswesen, vom Gesetze auferlegt ist. Ihre Bewaffnung ferner besteht aus Spieß und Schild, mit denen wir zuerst  unter den Völkern Asiens uns ausrüsteten, indem  die Göttin es uns, ebenso wie in euren Gegenden  euch zuerst, gelehrt hatte. Was sodann die Geistesbildung anlangt, so siehst du wohl doch, eine wie  große Sorge das Gesetz bei uns gleich in seinen  Grundlagen auf sie verwandt hat, indem es aus  allen auf die Naturordnung bezüglichen Wissenschaften bis zu der Wahrsagekunst und der Heilkunst zur Sicherung der Gesundheit hin, welche  alle göttlicher Natur sind, dasjenige, was zum Gebrauche der Menschen sich eignet, heraussuchte  und sich dergestalt alle diese Wissenschaften und  alle andern, welche mit ihnen zusammenhängen,  aneignete. Nach dieser ganzen Anordnung und Einrichtung gründete nun die Göttin zuerst euren  Staat, indem sie den Ort eurer Geburt mit  Rücksicht darauf erwählte, daß die dort herrschende glückliche Mischung der Jahreszeiten am  besten dazu geeignet sei, verständige Männer zu  erzeugen. Weil also die Göttin zugleich den Krieg  und die Weisheit liebt, so wählte sie den Ort aus,  welcher am meisten sich dazu eignete, Männer, wie sie ihr am ähnlichsten sind, hervorzubringen, und  gab diesem zuerst seine Bewohner. So wohntet ihr  denn also dort im Besitze einer solchen Verfassung und noch viel anderer trefflicher Einrichtungen und  übertraft alle anderen Menschen in jeglicher Tugend und Tüchtigkeit, wie es auch von Sprößlingen und Zöglingen der Götter nicht anders zu erwarten  stand. Viele andere große Taten eures Staates nun  lesen wir in unseren Schriften mit Bewunderung;  von allen jedoch ragt eine durch ihre Größe und  Kühnheit hervor:

Unsere Bücher erzählen nämlich, eine wie gewaltige Kriegsmacht einst euer Staat gebrochen  hat, als sie übermütig gegen ganz Europa und  Asien zugleich vom Atlantischen Meere heranzog.  Damals nämlich war das Meer dort fahrbar: denn  vor der Mündung, welche ihr in eurer Sprache die  Säulen des Herakles heißt, hatte es eine Insel, welche großer war als Asien und Libyen zusammen,  und von ihr konnte man damals nach den übrigen  Inseln hinübersetzen, und von den Inseln auf das  ganze gegenüberliegende Festland, welches jenes  recht eigentlich so zu nennende Meer umschließt.  Denn alles das, was sich innerhalb der eben genannten Mündung befindet, erscheint wie eine  bloße Bucht mit einem engen Eingange; jenes Meer aber kann in Wahrheit also und das es umgebende  Land mit vollem Fug und Recht Festland heißen.  Auf dieser Insel Atlantis nun bestand eine große  und bewundernswürdige Königsherrschaft, welche  nicht bloß die ganze Insel, sondern auch viele andere Inseln und Teile des Festlands unter ihrer Gewalt hatte. Außerdem beherrschte sie noch von den  hier innerhalb liegenden Ländern Libyen bis nach  Ägypten und Europa bis nach Tyrrhenien hin. 

Indem sich nun diese ganze Macht zu einer Heeresmasse vereinigte, unternahm sie es, unser und euer  Land und überhaupt das ganze innerhalb der Mündung liegende Gebiet mit einem Zuge zu unterjochen. Da wurde nun, mein Solon, die Macht eures  Staates in ihrer vollen Trefflichkeit und Stärke vor  allen Menschen offenbar. Denn vor allen andern an Mut und Kriegskünsten hervorragend, führte er zuerst die Hellenen; dann aber ward er durch den Abfall der anderen gezwungen, sich auf sich allein zu  verlassen, und als er so in die äußerste Gefahr gekommen, da überwand er die Andringenden und  stellte Siegeszeichen auf und verhinderte so die  Unterjochung der noch nicht Unterjochten und gab  den andern von uns, die wir innerhalb der herakleïschen Grenzen wohnen, mit edlem Sinne die Freiheit zurück. Späterhin aber entstanden gewaltige  Erdbeben und Überschwemmungen, und da versank während eines schlimmen Tages und einer  schlimmen Nacht das ganze streitbare Geschlecht  bei euch scharenweise unter die Erde; und ebenso  verschwand die Insel Atlantis, indem sie im Meere  unterging. Deshalb ist auch die dortige See jetzt  unfahrbar und undurchforschbar, weil der sehr hoch aufgehäufte Schlamm im Wege ist, welchen die  Insel durch ihr Untersinken hervorbrachte.'«

Da hast du nun, lieber Sokrates, was mir vom  alten Kritias auf Solons Bericht hin erzählt wurde,  so in kurzem vernommen. Und so fiel mir denn  auch, als du gestern über den Staat und seine Bürger, wie du sie schildertest, sprachest, eben das,  was ich jetzt mitgeteilt habe, dabei ein, und mit Erstaunen bemerkte ich, wie wunderbar du durch ein  Spiel des Zufalls so überaus nahe in den meisten  Stücken mit dem zusammentrafst, was Solon erzählt hatte. Doch wollte ich es nicht sogleich  sagen, denn nach so langer Zeit hatte ich es nicht  mehr gehörig im Gedächtnisse, und ich merkte  daher, daß es nötig wäre, bei mir selber zuvor gehörig alles wieder zu überdenken und dann erst  darüber zu sprechen. Darum war ich auch so rasch  mit den Aufgaben, welche du gestern stelltest, einverstanden, indem ich glauben durfte, ich werde um das, was in allen solchen Fällen die meisten  Schwierigkeiten macht, nämlich einen den Erwartungen der Zuhörer entsprechenden Stoff zugrunde  zu legen, eben nicht in Verlegenheit sein. Deshalb  nun rief ich es mir denn auch ins Gedächtnis zurück, indem ich es gestern gleich, wie auch Hermokrates schon bemerkt hat, als ich von hier fortging,  unseren beiden Fremden mitteilte, und ebenso sann  ich, nachdem ich sie verlassen hatte, während der  Nacht darüber nach und habe mir dadurch so ziemlich alles wieder zur vollen Erinnerung gebracht.  Und in der Tat, es ist wahr, was das Sprichwort  sagt: »Was man als Knabe lernt, das merkt sich  wunderbar.« Ich meinerseits wenigstens weiß es  nicht, ob ich das, was ich gestern hörte, mir so  alles im Gedächtnis wieder vergegenwärtigen  könnte; von dem eben Erzählten aber, was ich vor  so langer Zeit gehört habe, sollte es gar sehr mich  wundernehmen, wenn mir irgend etwas davon entschwunden wäre. Ich hatte aber auch schon damals, als ich es hörte, nach Kinderart viel Freude daran,  weshalb ich denn den Alten, der auch stets bereit  war, mir Rede zu stehen, wiederholt immer von  neuem danach fragte, so daß es wie mit  unauslöschlichen Zügen sich mir eingebrannt hat.  Daher teilte ich denn auch den Gastfreunden gleich  heute morgen früh eben dies mit, damit es auch  ihnen gleich mir nicht an Stoff zu Reden gebräche. 

Jetzt also, um auf das zurückzukommen, weswegen dies alles bemerkt worden ist, bin ich bereit, lieber  Sokrates, nicht bloß im ganzen und großen, sondern auch in den einzelnen Zügen alles, wie ich es  gehört habe, vorzutragen, und die Bürger und den  Staat, welche du gestern uns gleichsam nur wie in  einer Dichtung geschildert hast, werde ich jetzt in  die Wirklichkeit, und zwar hierher (nach Athen)  versetzen, indem ich annehme, daß jener Staat der  unsrige gewesen ist, und werde behaupten, daß die  Bürger, wie du sie dir dachtest, jene unsere leibhaftigen Voreltern gewesen sind, von welchen der  Priester sprach. Sie werden ganz dazu stimmen,  und wir werden durchaus das Richtige treffen,  wenn wir sagen, daß sie die seien, welche in der  damaligen Zeit lebten. Wir werden uns jedoch in  die Aufgabe, welche du uns gestellt hast, teilen und so alle mit vereinten Kräften sie nach Vermögen  gebührend zu lösen versuchen, und es ist eben deshalb vorher zuzusehen, lieber Sokrates, ob dieser  Stoff nach unserem Sinne ist, oder ob wir noch erst  einen anderen an seiner Stelle zu suchen haben.

Sokrates: Und welchen anderen, mein Kritias, sollten  wir wohl lieber an seiner Stelle nehmen, welcher zu dem gegenwärtigen Opferfest der Göttin wegen der  nahen Beziehung zu ihr so gut paßte? Und dazu ist  auch wohl noch das an ihm ein großer Vorzug, daß er kein bloß erdichtetes Märchen, sondern eine  wahre Geschichte enthält. Denn wie und woher  sollten wir denn andere Stoffe nehmen, wenn wir  diesen verschmähen wollten? Wir würden vergebens suchen; vielmehr - und ich wünsche euch  guten Erfolg dazu - müßt ihr jetzt reden, ich aber  zum Entgelt dafür, daß ich gestern gesprochen  habe, nunmehr in Ruhe zuhören.

Kritias: So betrachte denn, lieber Sokrates, wie wir  die Anordnung der Gastgeschenke für dich getroffen haben: Wir haben nämlich beschlossen, daß Timaios, weil er sich unter uns am meisten auf die  Sternkunde versteht und es sich am meisten zur  Aufgabe gemacht hat, über die Natur des Alls zur  Erkenntnis zu gelangen, zuerst reden solle, und  zwar so, daß er mit der Entstehung der Welt beginnt und mit der Erzeugung der Menschen aufhört; ich aber nach ihm, nachdem ich von ihm die  Menschen als entstandene, gemäß seiner Darstellung, von dir aber einen Teil derselben als ganz  vorzüglich gebildet in Empfang genommen und  diese letzteren zur Beurteilung nach der Erzählung  und dem Gesetze des Solon gleichsam vor unseren  Richterstuhl geführt habe, - ich solle sie, indem ich davon ausgehe, daß dies die damaligen Athener  sind, die die Überlieferung der heiligen Bücher aus  ihrer Verborgenheit ans Licht gezogen hat, zu Bürgern unseres Staates machen und das Weitere über  sie sodann als über Bürger und Athener vortragen.

Sokrates: Recht vollständig und glänzend scheint ja  meine Gegenbewirtung durch eure Reden ausfallen  zu sollen! Deine Aufgabe, wie ich denke, Timaios,  wäre es denn also hiernach, jetzt zunächst zu sprechen, nachdem du zuvor, wie der Brauch es fordert, die Götter angerufen hast.

Timaios: Traun, lieber Sokrates, tun doch das wohl  alle, die auch nur ein wenig Überlegung besitzen:  rufen doch sie alle wohl beim Beginne eines jeden  Unternehmens, mag es nun geringfügig oder bedeutend sein, stets einen Gott an. Und wir, die wir gar  über das All zu sprechen im Begriffe sind, nämlich  inwiefern es entstanden ist oder aber unentstanden  von Ewigkeit war, müßten ja ganz und gar den  Verstand verloren haben, wenn wir nicht die Götter und Göttinnen anrufen und von ihnen erflehen  wollten, daß es uns gelingen möge, das Ganze vor  allem nach ihrem Sinne, sodann aber auch in Übereinstimmung mit uns selber darzulegen. Und so  mögen denn die Götter eben hierum angerufen sein; an uns selbst aber haben wir den Anruf und die  Anfrage zu stellen, aufweiche Weise ihr eurerseits  am leichtesten ein Verständnis der Sache gewinnen, ich für mein Teil aber den vorliegenden Gegenstand am deutlichsten so, wie ich über ihn denke,  zum Ausdrucke bringen möge.

Man muß nun nach meiner Meinung zuerst folgendes unterscheiden und feststellen: wie haben wir uns das immer Seiende, welches kein Werden zuläßt, und wie das immer Werdende zu denken, welches niemals zum Sein gelangt? Nun, das eine als  dem Denken vermöge des vernünftigen Bewußtseins erfaßbar, eben weil als ein solches, welches  immer dasselbe bleibt, das andere dagegen als der  bloßen Vorstellung vermöge der bewußtlosen Sinneswahrnehmung zugänglich, eben weil als ein solches, welches dem Entstehen und Vergehen ausgesetzt und nie wahrhaft seiend ist. Alles Werdende  muß ferner durch irgend eine Ursache werden, denn es ist unmöglich, daß etwas ohne irgend eine Ursache entstehe. So weit nun der Urheber dabei auf  dasjenige hinblickt, welches immer dasselbe bleibt, und sich einer Wesenheit aus diesem Gebiete als  seines Urbildes bedient, um danach die Gestalt  eines Dinges und den Inbegriff seiner Kräfte hervorzubringen, wird es notwendigerweise sodann in  allen Stücken vortrefflich geraten; soweit er aber  auf das Gewordene hinblickt und sich eines  Urbildes bedient, welches selber dem Entstandenen angehört, in so weit nicht vortrefflich. Von dem  ganzen Weltgebäude nun oder Weltall - oder,  wenn ihm irgend ein anderer Name am meisten genehm ist, so sei ihm dieser von uns beigelegt - ist  eben hiernach zunächst zu untersuchen, was überhaupt bei jedem Gegenstand der Untersuchung als  Ausgangspunkt zugrunde gelegt werden muß, ob es immer war und nicht erst, in das Werden eintretend, einen Anfang genommen hat, oder ob es entstanden und von einem Anfange ausgegangen ist.  Es ist entstanden, denn es ist sichtbar und fühlbar  und hat einen Körper; alles so Beschaffene aber ist  sinnlich wahrnehmbar, und das sinnlich Wahrnehmbare, welches der Vorstellung mit Hilfe der  Sinne zugänglich ist, erschien uns als das Werdende und Entstandene. Das Werdende, sagten wir  dann ferner, müsse notwendig durch irgend eine  Ursache werden. Den Schöpfer und Vater dieses  Alls nun zu finden ist freilich schwierig, und wenn  man ihn gefunden hat, ist es unmöglich, sich für  alle verständlich über ihn auszusprechen; doch  muß man in betreff seiner wiederum dies untersuchen, nach welchem von beiderlei Urbildern er als  Baumeister die Welt gebildet hat, ob nach demjenigen, welches stets dasselbe und unverändert bleibt,  oder aber nach dem Entstandenen.

Wenn nun aber doch diese Welt schön und vortrefflich und der Meister gut und vollkommen ist,  so ist es offenbar, daß er nach dem Ewigen schaute; wenn dagegen der Fall eintritt, welchen auch nicht  einmal auszusprechen erlaubt ist, dann nach dem  Entstandenen. Eben hiernach ist es nun schon jedermann klar, daß er nach dem Ewigen blickte,  denn die Welt ist das Schönste von allem Entstandenen, und der Meister ist der beste und vollkommenste von allen Urhebern. So ist denn jene als  eine solche ins Leben gerufen worden, die nach  dem Urbilde dessen entstanden, was der Vernunft  und Erkenntnis erfaßbar ist und beständig dasselbe  bleibt.

Schreiten wir nun auf diesen Grundlagen zur Betrachtung dieser unserer Welt, so ist sie eben hiernach ganz notwendigerweise ein Abbild von etwas. Nun ist es aber bei einer jeden Frage von der höchsten Wichtigkeit, gerade ihren Ausgangspunkt  sachgemäß zu behandeln, und so muß man denn  auch zwischen der Art, wie man von dem Abbilde,  und der, wie man von seinem Urbilde zu handeln  hat, sofort feste Grenzen ziehen, indem man erwägt, daß die Darstellungsweise mit den Gegenständen, welche sie zum Verständnisse bringen  soll, auch selber verwandt ist, und daß daher die  Darlegung des Bleibenden und Beständigen und im Lichte der Vernunft Erkennbaren selber das Gepräge des Bleibenden und Unumstößlichen an sich  trägt, - und soweit es überhaupt wissenschaftlichen Erörterungen zukommt, unwiderleglich und unerschütterlich zu sein, darf man es hieran in nichts  fehlen lassen, - die des nach jenem Gebildeten dagegen, so wie dieses selber nur ein Abbild ist, diesem ihrem Gegenstände entsprechend das des bloß  Wahrscheinlichen; denn wie zum Werden das Sein, so verhält sich zum Glauben die Wahrheit. Wenn  ich daher, mein Sokrates, trotzdem daß schon viele  vieles über die Götter und die Entstehung des Alls  erörtert haben, nicht vermögen sollte, eine nach  allen Seiten und in allen Stücken mit sich selber  übereinstimmende und ebenso der Sache genau entsprechende Darstellung zu geben, so wundere dich  nicht; sondern wenn ich nur eine solche liefere, die  um nichts minder als die irgend eines anderen  wahrscheinlich ist, so müßt ihr schon zufrieden  sein und bedenken, daß wir alle, ich, der Darsteller, und ihr, die Beurteiler, von nur menschlicher Natur sind, so daß es sich bei diesen Gegenständen für  uns ziemt, uns damit zu begnügen, wenn die Dichtung nur die Wahrscheinlichkeit für sich hat, und  wir nichts darüber hinaus verlangen dürfen.

Sokrates: Sehr richtig bemerkt, lieber Timaios, und  durchaus annehmbar gefordert. Und dein Vorspiel  haben wir nun mit Bewunderung entgegengenommen; so führe uns denn auch das Lied selber nach  seiner Ordnung zu Ende!

1 2 3 4 weiter >

 

Home Suchen Vorträge Veranstaltungen Adressen Bücher Link hinzufügen
Diese Seite als PDF drucken Wolfgang Peter, Ketzergasse 261/3, A-2380 Perchtoldsdorf, Tel/Fax: +43-1-86 59 103, Mobil: +43-676-9 414 616 
www.anthroposophie.net       Impressum       Email: Wolfgang.PETER@anthroposophie.net
Free counter and web stats