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So herrsche denn Eros,
der alles begonnen ...

Die Weltbedeutung der Liebe

© Wolfgang Peter 2000

Psyche und Eros

Inhalt


Einleitung

Was die Liebe sei, ist schwer zu ergründen. Mehr als alles andere entzieht sie sich jeder klaren abgezirkelten Definition. Sie will nicht zuallererst begriffen, sondern unmittelbar gefühlt werden. Und doch muß sie zu unserem Denken sprechen, wenn wir ihr Wesen bewußt erfassen wollen - und wenn sie dies tut, so wirft sie zugleich, wie wir in der Folge sehen werden, ein ganz neues Licht über unser Erkenntnisleben. Was sich an Weltverständnis dem kühlen Verstand verschließt, kann sich dem von Liebe durchwärmten Bewußtsein erschließen. Liebe macht nicht blind, wie es oft heißt, sondern sie macht sehend für die zunächst verborgenen Seiten des Daseins.

Daß die Liebe eine gewisse Bedeutung für die zwischenmenschlichen Beziehungen hat, wird wohl kaum jemand bestreiten. Wieweit sich allerdings die Liebesfähigkeit bis zum heutigen Tag in der Menschheit verbreitet hat, darüber kann man geteilter Meinung sein. Mehr herrsche heute ein allgemeiner wirtschaftlicher und sozialer "Kampf ums Dasein", denn echte Menschenliebe. Nur wenn man unter Liebe bloßen Sex versteht, wie man heute oft meint, dann wäre sie zweifellos weit verbreitet - aber das ist vielleicht allzu eng gefaßt!

Wir wollen im folgenden versuchen, die Liebe in einem viel weiteren Sinn zu charakterisieren; zu charakterisieren von verschiedensten Seiten - nicht zu definieren, denn die Liebe spricht eben nicht zum Kopf, sondern entströmt dem Herzen, der Mitte unseres Wesens, und indem wir sie von verschiedenen Seiten beleuchten, umkreisen wir gleichsam das verborgene Zentrum aus dem sie ihre Kraft entfaltet. Es soll der Versuch gewagt werden, zu zeigen, daß die Liebe nicht nur das eigentliche wirkliche Zentrum des Menschenwesens ist - und das mag gegenwärtig den meisten schon recht kühn erscheinen - sondern mehr noch soll gezeigt werden, daß die Liebe das Zentrum der ganzen Weltentwicklung ist. In welchen Stufen sich die Liebe als Seelen- und Naturkraft zugleich bisher entfaltet hat, werden wir zu untersuchen haben, und zu welchen Formen sich die Liebe künftig verwandeln wird.

Die Liebe als Quelle der Schöpfung

Am Anfang war das Chaos, so erzählt uns der griechische Schöpfungsmythos, noch gab es den Himmel nicht und nicht die Erde, Licht und Finsternis waren noch nicht geschieden. Ginnungagap, der gähnende Abgrund, so wird in der germanischen Mythologie dieser Ursprungszustand genannt, aus dem die ganze Schöpfung hervorgegangen ist. Nichts hätte hier das Auge sehen können, das Ohr nichts hören - und es war das, was den Sinnen wie die absolute Leere erscheinen müßte, erfüllt von schöpferischer geistiger Regsamkeit, wie es etwa die Bibel in der Genesis andeutet, wenn es heißt:

1,1 Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde
1,2 Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.

Es ist schwer, sich von diesem ursprünglichen Chaos, aus dem die Welt der Erscheinungen hervorgegangen ist, einen rechten Begriff zu machen. Zu einer anfänglichen Vorstellung können wir gelangen, wenn wir auf unser Traumleben blicken. Gegenüber den klaren Bilder, in denen sich die äußere Welt vor unseren Sinnen entfaltet, wogt unser inneres Traumleben in beständig wechselnden, oft kaum faßbaren Gestalten, die aller Naturgesetzlichkeit spotten, durch unser träumendes Bewußtsein. Wir erleben nicht mehr äußerlich sinnlich, sondern innerlich seelisch - und doch erleben wir noch etwas. Und wenn wir auch nicht mehr unmittelbar durch die Sinne die Welt erleben, so kleidet sich das Traumgewoge doch in mehr oder weniger verzerrte, veränderte sinnliche Bilder, die uns als Reminiszenzen aus unserem wachen Tagesleben geblieben sind. Wir sind damit bereits nahe an ein vergleichbares Erleben herangerückt, das diesem ursprünglichen Chaos entspricht - aber noch nicht ganz. Wir müssen gleichsam aus unserem Traumbewußtsein noch die sinnlichen Erinnerungsbilder abstreifen und uns in die traumbildende Kraft selbst einfühlen, die sich durch sie offenbaren will. Die Traumbilder an sich sind ohne Bedeutung, sie sind eben doch nur aus sinnlichen Erinnerungsbildern gestaltet - alles kommt auf die Seelenkraft an, die verborgen hinter ihnen waltet. Wenn wir uns einen bewegten Traum vorstellen und dann die Traumbilder als solche beiseite schieben, so erscheint das Bewußtsein zunächst leer - und doch ist es erfüllt von einer ungeheuren schöpferischen Regsamkeit, die zwar nicht geschaut, aber doch innerlich intensiv gefühlt werden kann. Vermag man sich in diesen Zustand zu versetzen, so hat man zumindest eine allererste anfängliche Vorstellung des Urchaos, aus dem die Welt entstanden ist. Nicht zufällig nennen die Aborigines die Zeit der Schöpfung auch Traumzeit:

"Die Traumzeit (auch: "Schöpfungszeit") stellt eine wichtige Rolle in der Mythologie der australischen Ureinwohner dar. Sie ist die Schöpfung, die vor vielen Millionen Jahren den Anfang der Zeit bestimmte. Mit Träumerei ist der Begriff Traumzeit nicht zu verwechseln, schon die englische Bezeichnung "Dreamtime" war nicht richtig sprechend. In den Sprachen der Aborigines wird sie "Altjeringa", "Tjurkurrpa" oder "Palaneri" genannt.

Vielmehr soll mit Traumzeit die Zeit der Entstehung aller Dinge gekennzeichnet werden. Die Aborigines gedenken in vielen Riten an diese Zeit, in der das Leben begann, die "Dinge" aus dem inneren der Erde oder aus dem Himmel an die Oberfläche kamen. Nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere, Gebirge und Flüsse, eben alles vorhandene Sein."

Aus diesem anfänglichen Chaos bricht die Schöpfung hervor. Wie das geschieht, erzählt uns die griechische Überlieferung so:

Eines Tages habe sich ein belebendes Schimmern und wärmendes Glimmen durch das ganze Chaos verbreitet, unendlich zart: das kam von Eros, dem Gott der himmlischen Liebe, dem ältesten der Götter. Sein keusches Licht belebt noch heute die ganze Schöpfung und verbindet ihre Wesen, gute wie böse, untereinander; und so belebte und befruchtete es auch das Chaos, und aus diesem entsproß Gaia, die Urmutter der Erde.

Erst mit dem Licht und durch das Licht kann die Welt äußerlich in Erscheinung treten.

1,3 Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht

Erst war nur ein verborgenes Weben in der Zeit, jetzt ist die erste Voraussetzung geschaffen, daß es sich im Raum offenbart – wie das genau geschieht, wird noch zu besprechen sein.

Das Wesen des Geistes ist es, sich zu verschenken. Geist ist Liebe - und zugleich ein beständiges sich hinopfern. Eros ist in diesem Sinn tatsächlich der älteste der Götter. Er befruchtet das Chaos, indem er sich verschenkt. Liebe ist immer opferbereit. Sie will nichts für sich behalten, sondern gibt sich an die Welt hin. Sie erfüllt die Welt mit ihrem Wesen, mit ihrem inneren Reichtum. Liebe ist Offenbarung: das Innere ergießt sich in das Äußere - aber es verwandelt sich dadurch auch in bedeutsamer Weise. Indem die Schöpfung dem Herzen der Welt entquillt, entfremdet sie sich zugleich ihrer schöpferischen Quelle. Schöpfer und Geschöpf entzweien sich.

Der Geist erstirbt in den starren Formen der äußeren Schöpfung, die aber zugleich im Laufe der Evolution immer mehr zum Abbild des schaffenden Geistes wird und dadurch in Schönheit erglänzt. Er wird, indem er sich verschenkt und in der Schöpfung erstrahlt zum Licht der Welt und damit zugleich zu Raum und Zeit. Denn was ist Schönheit? Das deutsche Wort "Schönheit" hängt nicht umsonst mit "scheinen" zusammen; die Welt als Ganzes, und auch alle Einzeldinge erscheinen umso schöner, je mehr sich durch sie der Geist, der sie geschaffen hat, sinnlich abbildet. Das gilt für die Naturschöpfung genauso, wie für ihre Fortsetzung: die vom Menschen schöpferisch hervorgebrachte Kunst.

Göttlicher und gemeiner Eros

1,4 Und Gott sah, daß das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis
1,5 und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.

Indem sich die erste Schöpfung, das Licht, ihrer geistigen Quelle entfremdet und selbstständig wird, tritt immer mehr ihr Schattenwurf hervor, die Finsternis. Licht, das sich nicht offenbaren, sondern für sich selbst etwas sein will, erscheint nach außen als Finsternis. In ihren Tiefen ruht verborgen das geraubte Licht.

LUZIFER

«Ich will mein Licht vor eurem Licht verschließen,
ich will euch nicht, ihr sollt mich nicht genießen,
bevor ich nicht ein Eigenlicht geworden.

So bring ich wohl das Böse zur Erscheinung,
als Geist der Sonderheit und der Verneinung,
doch neue Welt erschafft mein Geisterorden.

Aus Widerspruch zum unbeirrten Wesen,
aus Irrtum soll ein Götterstamm genesen,
der sich aus sich - und nicht aus euch - entscheidet.

Der nicht von Anbeginn in Wahrheit wandelt,
der sich die Wahrheit leidend erst erhandelt,
der sich die Wahrheit handelnd erst erleidet.»

Christian Morgenstern

Alle Materie ist aus dem ursprünglichen Licht gewoben, Materie ist gleichsam gefangenes Licht – das entspricht durchaus auch der naturwissenschaftlichen Anschauung, die seit Einstein von der Äquivalenz von Energie (Licht im weitesten Sinn) und Materie (Finsternis im weitesten Sinn) spricht. Und jetzt wird überhaupt erst die sinnliche Erscheinung möglich, denn weder das Licht an sich, noch die Finsternis allein sind sinnlich sichtbar; beide sind außersinnlicher Natur. Von der Finsternis wird man das noch leichter zugeben, das Licht meint man sehen zu können. Tatsächlich sehen wir aber mit unseren Augen niemals das Licht selbst, sondern stets nur Leuchtendes oder Beleuchtetes. Das Licht, das zwischen beiden webt, verbirgt sich den Sinnen – und doch ist es wirklich, denn es zeigt sich durch seine Wirkungen, die es hervorzaubert – die reiche Fülle der Farbenwelt. Erst wo das übersinnliche Licht auf die untersinnliche Finsternis, die Materie, trifft, leuchten die Farben auf. Das ganze Weltall mit seinen tausenden von Sternen ist erfüllt von Licht – und doch erscheint es uns dunkel. Erst wenn das Licht einen Gegenstand trifft, erglänzen die sinnlichen Farben, und so steht die sinnliche Welt gerade an der Grenzscheide zwischen übersinnlicher und untersinnlicher Welt, dort, wo sich das offenbarende Licht mit dem in den Tiefen der Materie gefesselten Licht begegnet.

Tatsächlich ist das Licht, welches heute den Kosmos erfüllt, nicht mehr das ursprüngliche Schöpfungslicht, wie es unmittelbar aus seiner geistigen Quelle hervorgebrochen ist. Ein sekundäres Licht erfüllt heute die Welt, das erst durch die Finsternis hindurchgegangen ist; ein Licht, das erst in der Materie gefesselt war und wieder aus ihr befreit wurde. Es erstrahlt nicht mehr unmittelbar aus dem geistigen Ursprung, sondern hat sich, indem es den abertausend leuchtenden Sonnen entströmt, wieder aus dem Materiellen befreit. Dadurch hat es aber auch einen ganz anderen Charakter als das primäre Licht. Es ist gleichsam durch ein Sonderdasein hindurchgegangen, war zeitweilig vom Ganzen abgetrennt und kündet nicht mehr von seinem ersten Ursprung, sondern will sein besonderes Sein behaupten. Es ist ein Licht, das schon die Finsternis in sich eingeschlossen trägt, den Prägestempel der materiellen Welt. Es ist das "stolze Licht", das luziferische Licht, "von Körpern strömt’s, die Körper macht es schön, ein Körper hemmt‘s auf seinem Gange...", wie Goethe es den Mephisto im ersten Teil seines "Faust" so anschaulich sagen läßt:

MEPHISTOPHELES.
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär's, daß nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt,
mein eigentliches Element.
FAUST.
Du nennst dich einen Teil, und stehst doch ganz
vor mir?
MEPHISTOPHELES.
Bescheidne Wahrheit sprach' ich dir.
Denn sich der Mensch, die kleine Narrenwelt,
Gewöhnlich für ein Ganzes hält -
Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war,
Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar,
Das stolze Licht, das nun der Mutter Nacht
Den alten Rang, den Raum ihr streitig macht,
Und doch gelingt's ihm nicht, da es, so viel es
strebt,
Verhaftet an den Körpern klebt.
Von Körpern strömt's, die Körper macht es schön,
Ein Körper hemmt's auf seinem Gange,
So hoff' ich, dauert es nicht lange,
Und mit den Körpern wird's zugrunde gehn.

Es ist damit genau die Situation bezeichnet, die in der Bibel als luziferische Versuchung und anschließenden Sündenfall beschrieben wird. Und es ist ganz richtig, auf dieser Stufe der Naturentwicklung zugleich auf moralische Qualitäten hinzuweisen. Denn solange es überhaupt noch keine sinnliche Erscheinung gibt, macht es einfach keinen Sinn, natürliche und moralische Gegebenheiten, voneinander zu scheiden. Noch gibt es keine unbeseelte Natur und keine der Natur entfremdete Seele. Das beginnt erst, als sich die Finsternis in das ursprüngliche Licht zu mischen beginnt. Und damit tritt dem Ur-Guten zugleich das Böse zu Seite, der Weisheit wird die Dummheit beigegeben, der Schönheit das Häßliche – und zu der ursprünglichen Liebe gesellt sich der Haß!

Die Regenbogenschlange, so glauben die Aborigines, habe während der Traumzeit Pflanzen, Tiere und Menschen geschaffen und der ganzen Erde ihre Gestalt gegeben. Auf ihren Wegen durch Australien legte sie überall ihre Eier ab. Diese Plätze sind den Aborigines heilig, sie sind Quellorte des Lebens. Die Regenbogenschlange ist den Aborigines die "Mutter allen Lebens". Nach der letzten Eiablage begab sie sich zu ihrem Ruheort Uluru (Ayers Rock), wo sie noch heute schläft. Ähnlich verehren die Navajo die Regenbogenschlange, und für die Azteken war Quetzalcoatl, die "Gefiederte Schlange", der Schöpfer allen Lebens und zugleich der, der den Menschen das Licht der Kultur brachte.

Schon durch ihren sinnlichen Farbenglanz verrät die Regenbogenschlange ihre Verwandtschaft mit der verführerischen Schlange im Paradies, von der die Bibel spricht. Luzifer steht am Eingangstor in die sinnliche Welt.

Das darf aber nicht bloß als ein "bedauerlicher Betriebsunfall" des Schöpfungsgeschehens angesehen werden, sondern es liegt eine unbedingte Notwendigkeit darin. Denn ohne diese Entzweiung des Geschöpfs von seinem Schöpfer gäbe es die ganze äußere Schöpfung gar nicht! Die Schöpfung, indem sie sinnlich sichtbare äußere Schöpfung wird, ist unvermeidbar durch den "Sündenfall" mitgeprägt. Zum göttlichen tritt der gemeine Eros hinzu, zur keuschen himmlischen Liebe gesellt sich die sinnliche irdische Liebe.

"So wahr die Schwere und Elektrizität und der Magnetismus Kräfte sind, die heute in gröberem Stile teilnehmen an der Erdenbildung, so wahr ist das, was wir luziferischen Einfluß nennen, eine Kraft, ohne welche das Erdenwerden nicht hätte vor sich gehen können. Und wir müssen unter die die Erde konstituierenden Kräfte diesen luziferischen Einfluß hinzuzählen."

Und so wie sich dem lichten Mittagsgott Quetzalcoatl der mitternächtliche Tezcatlipocaa entgegenstellt, so mischt sich dem luziferischen Licht die ahrimanische Verdüsterung bei. Ahriman ist ja in der persischen Mythologie der Herr der unterirdischen Finsternis. Luzifer und Ahriman sind beide in der äußeren Schöpfung wirksam, sie wäre ohne sie gar nicht vorhanden.

Die Schöpfung entfremdet sich ihrer geistigen Quelle und tritt in Gegensatz zu ihr - das ist aber letztlich die Voraussetzung für das Ich-Bewußtsein, denn das Ich-Bewußtsein ist zuallererst ein gegenständliches Bewußtsein, durch das sich das Ich, das Subjekt, den Objekten gegenüberstellt und sich dadurch seiner selbst als eines selbstständigen, von der Welt mehr oder weniger getrennten Wesens bewußt wird. Je mehr sich das Subjekt von den Objekten trennt, desto heller leuchtet zwar sein Selbstbewußtsein auf, desto mehr erscheint ihm aber umgekehrt die objektive Außenwelt entgeistigt, seelenlos, bloß materiell. Die materialistische Gesinnung unserer Tage ist nur der konsequente Endpunkt dieses Weges. Die materielle Finsternis spiegelt uns die sinnlich erfahrbare Objektwelt vor und verbirgt uns zugleich ihren geistigen Ursprung. Das ist aber ein notwendiger Durchgangspunkt des Entwicklungsweges durch den wir zu uns selbst finden. Nur ein geistig freies, auf das eigene Ich gegründete Wesen ist fähig, eigenständig die Liebeskräfte in seinem Inneren zu entfalten, durch die es wieder zu den geistigen Quellen vordringen kann – nun aber nicht mehr als bloßes Geschöpf, sondern selbst als Schöpfer.

Die Liebe als universales Prinzip der Natur

Die Welt, wie sie sich zunächst vor unseren Sinnen ausbreitet, ist keine einheitliche. Sie offenbart sich in Gegensätzen. Seien es nun Licht und Finsternis, positive und negative Elektrizität, Nord- und Südmagnetismus oder noch komplexere Gegenspieler wie Blüte und Wurzel in der Pflanze oder Trieb und Verstand beim Menschen – immer wieder zeigt sich die äußere Welt sich in den verschiedensten Polaritäten. Das hat schon Goethe ganz klar erkannt, wenn er von zwei großen Triebrädern der Natur spricht, nämlich:

"der Begriff von Polarität und von Steigerung, jene der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen, insofern wir sie geistig denken, angehörig; jene ist in immerwährendem Anziehen und Abstoßen, diese in immerstrebendem Aufsteigen. Weil aber die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, so wie sichs der Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen; wie derjenige nur allein zu denken vermag, der genugsam getrennt hat, um zu verbinden, genugsam verbunden hat, um wieder trennen zu mögen."

Alles erscheint zunächst in Polaritäten, die dann durch die Steigerung wieder überwunden werden, worauf alsobald ein neuer Gegensatz hervorbricht, überwunden wird usw. Entzweiung, Trennung, Auseinandersetzung regieren die äußere Welt bis zu einem gewissen Grad; sie wäre sonst als äußere Welt gar nicht vorhanden. In moralischen Begriffen ausgesprochen: Haß und Streit bringen die äußere Erscheinung hervor, Liebe löst sie wieder ins Geistige auf. Das mag eine horrible, geradezu abergläubische Vorstellung für jeden Naturwissenschaftler sein, aber wo wir an die eigentlichen Quellen des äußeren Daseins herangehen, bleibt uns gar nichts anderes übrig. Die Naturwissenschaft erschöpft sich in der Betrachtung des Gewordenen, dessen also, was bereits ist, und bis dahin sind physikalische Begriffe angebracht. Will man das Werdende erfahren, das eben gerade noch nicht ist, aber werden soll, muß man sich moralischer Vergleiche bedienen. Der Ursprung der Welt liegt im Geistigen und das "Naturgesetz des Geistes" ist die Moral, die allerdings nicht im Sinne kleinlich moralisierender Gebote bestimmter konfessioneller Kreise mißverstanden werden darf, sondern einfach die gesetzmäßige Struktur darstellt, die der Geist seinem schöpferischen Tun aufprägt und, um überhaupt die äußere sinnliche Welt hervorbringen zu können, sogar den "Sündenfall" auf sich nehmen muß. "Haß" und "Entzweiung" bringen die äußere Welt hervor, Liebe verhindert, daß das Gewordene im erstorbenen Sein erstarrt. Darauf hat schon der griechische Philosoph Empedokles hingewiesen:

"Wie ich nämlich schon vorher sagte, als ich die Ziele meiner Lehre darlegte, will ich ein Doppeltes verkündigen. Bald wächst nämlich Eines zu einem einzigen Sein aus Mehrerem zusammen, bald scheidet es sich auch wieder, aus Einem Mehreres zu sein: Feuer, Wasser, Erde und der Luft unendliche Höhe, sodann gesondert von diesen [Elementen] der verderbliche Streit, der überall gleich wuchtige, und in ihrer Mitte die Liebe, an Länge und Breite gleich. Sie betrachte mit Deinem Geiste [und sitze nicht da mit verwunderten Augen], als welche auch in sterblichen Gliedern wurzelt und Geltung gewinnt. Sie ist es, durch die sie Liebesgedanken hegen und Werke der Eintracht vollenden; daher nennen sie sie auch Wonne oder Aphrodite. Sie ist es auch, die in jenen [Elementen] wirbelt; doch das weiß kein einziger sterblicher Mensch. Du aber vernimm dafür des Beweises untrüglichen Gang! Jene [Elemente] nämlich sind alle gleichstark und gleichgeschlachtet. Jedes von ihnen hat ein verschiedenes Amt, jedes seine besondere Art, abwechselnd aber gewinnen sie die Oberhand im Umlauf der Zeit. Und außer diesen kommt eben nichts hinzu oder davon. Denn wenn sie fort und fort zu Grunde gingen, wären sie nicht mehr. Was sollte denn aber dies Ganze vermehren und woher sollte es kommen? Wie sollte es auch zu Grunde gehen, da nichts leer von diesen [Elementen] ist? Nein, nur diese gibt es, und indem sie durcheinander laufen, entsteht bald dies bald jenes und so immerfort ähnliches bis in alle Ewigkeit."

In einer noch sehr stark an die alte Mysterienweisheit angelehnte Sprache schildert hier Empodokles, was sich aber jederzeit im sinnlichen Abglanz des äußeren Geschehens erfahren läßt. Die Welt, die ganze Natur ist eigentlich der gelebte Widerspruch. Sie läßt sich nicht, wie die Naturwissenschaft lange hoffte, vollkommen widerspruchsfrei erfassen. Sie ist nicht durchgehend auf formal-logischem Wege berechenbar; das mußten die Physiker erkennen lernen. Sie kann nur durch einander widersprechende Bilder näherungsweise charakterisiert werden, etwa durch den Welle-Teilchen-Dualismus in der Quantenphysik. Es muß eigentlich immer wieder ein neuer Gleichgewichtszustand zwischen den einander widersprechenden Elementen gefunden werden – und das kann nur durch die Kraft der Liebe geschehen. Sie ist die höchste denkbare Form der Steigerung, von der Goethe spricht.

Die Urpolarität ist aber die zwischen Schöpfer und Geschöpf, und der Prozeß, durch den sich der Schöpfer seiner Schöpfung gegenüberstellt, wird zugleich zur Grundlage des Bewußtseins. Der schöpferische Geist wird sich an seiner eigenen Schöpfung seiner selbst bewußt, denn bewußt zu sein bedeutet immer Bewußtsein von etwas, d.h. von einem Seienden, von einem Vorhandenen zu haben. Dieses Seiende ist eben die Schöpfung als solche. In ihr bildet der Geist seine eigene schöpferische Tätigkeit ab und indem er die Spuren seines Wirkens in der Schöpfung betrachtet, wird er sich zugleich seines eigenen Tuns bewußt. Der Geist selbst, in seiner reinsten Form genommen, ist völlig gestaltlos, er kann niemals angeschaut werden; er hat kein Sein, sondern ist die unerschöpfliche Quelle alles Werdens, und erst das Gewordene, die Schöpfung, kann angeschaut werden. Allerdings kann sich der Geist, das ewig Schaffende, in seinen Schöpfungen immer nur einseitig und unvollständig ausdrücken. Kein Gewordenes vermag die ganze Fülle seiner Schaffenskraft darstellen. Und das ist zugleich die Quelle eines schier unendlichen Leidens.

Alles schöpferische Tun, so beseligend es einerseits erlebt wird, ist anderseits unvorstellbar schmerzvoll, eben weil alles Geschaffene, wie eben erwähnt, notwendig unvollkommen ist. Der Schmerz ist nichts anderes als Ausdruck der Unvollkommenheit des Erschaffenen: es ist nicht heil, sondern leidet an der Unzulänglichkeit seines Daseins - und der Schöpfer, der es hervorgebracht hat und sich ihm liebevoll mitfühlend verbunden weiß, leidet ungeteilt mit ihm mit. Indem sich der Geist in die Schöpfung verschenkt und in ihr in Schmerzen erstirbt, legt er so den Keim des Bewußtseins. Alles Bewußtsein ist leiser Schmerz. Bewußt sein heißt, daß der Weg. vom Werden zum Sein beschritten wird und weiter zum Wissen von diesem Sein, das durch den Schöpfer geworden ist. Jeder Schöpfungsvorgang bedeutet eine einschneidende Beschränkung der ewig regsamen geistigen Fülle, die sich auch nicht annähernd in dem Geschaffenen ausleben kann. Aber wenn das auch ein unendlich schmerzvoller Prozeß ist, so reift gerade daran das schaffende Wesen zu einer höheren Stufe heran. "Wen Gott liebt, den schlägt er", sagt ein altes Sprichwort, das ganz in diesem Sinn zu verstehen ist. Es ist geradezu eine zentrale Lehre des Buddhismus, daß es im Schicksal (hier mit dem orientalischen Begriff Karma bezeichnet) aller Geschöpfe liegt, ein gewisses Maß an Leiden auf sich nehmen zu müssen. D. T. Suzuki, einer der hervorragendsten und bekanntesten Kenner der östlichen Weisheitslehren, sagte dazu anläßlich eines kurz nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem japanischen Kaiserhaus gehaltenen Vortrages:

"Wir sind nicht nur in unser Karma (Schicksal) verstrickt, sondern wir wissen auch, daß wir es sind... Und dieses Wissen, daß wir an das Karma gebunden sind, ist ein geistiges Vorrecht der Menschheit. Denn dieses Vorrecht, das zugleich Freiheit bedeutet, sagt uns auch, daß wir fähig sind, über das Karma hinauszugelangen. Allerdings müssen wir uns daran erinnern, daß mit Freiheit und Transzendieren auch Verantwortung und ein entsprechendes Sichmühen verbunden sind; und dieses Sichmühen als Folge der Freiheit bedeutet Leiden. In der Tat liegt der Wert des menschlichen Lebens in dieser Fähigkeit zu leiden; wo es dieses aus dem Wissen um unsere karmische Gebundenheit stammende Leiden nicht gibt, gibt es auch keine Kraft, die uns zur spirituellen Erfahrung befähigen würde, durch die wir den Bereich der Nicht-Unterscheidung (Anm. d. Verf.: im Sinne unmittelbarer geistiger Erfahrung, wie oben etwa anhand des Begriffs des Chaos erklärt) erreichen könnten. Wenn wir nicht bereit sind zu leiden, bringen wir uns um das dem Menschen gewährte besondere geistige Vorrecht."

Ein geistiges Wesen kann sich nur durch seine schöpferischen Taten verwirklichen und weiterentwickeln und muß daher auch ein gewisses Maß an Leiden auf sich nehmen. Aber es kann, wie Suzuki ganz deutlich bemerkt, als geistiges, also schöpferisches Wesen auch den Sinn dieses Leidens erkennen und dadurch überwinden, was dem bloßen Geschöpf, dem der eigene schöpferische Funke fehlt, ewig versagt bleibt. Das Leiden der Kreatur rings um uns her ist daher noch viel schrecklicher als unser eigenes, denn das Tier erlebt es als völlig sinnlosen zerstörerischen Einbruch in sein Dasein. Die geheime Hoffnung der ganzen Schöpfung richtet sich auf den Menschen, der durch seine geistige Entwicklung das Leid ertragen und schließlich überwinden kann – nicht nur für sich allein, sondern für alles Gewordene. Darauf deutet auch Paulus im Brief an die Römer, worin er sich ausspricht über die Hoffnung für die Schöpfung und die Gewißheit des Heils:

8,18 Denn ich bin überzeugt, daß dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. 8,19 Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, daß die Kinder Gottes offenbar werden. 8,20 Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit - ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung; 8,21 denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes 8,22 Denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. 8,23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. 8,24 Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? 8,25 Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.

Es ist sehr schwierig, sich über diese Dinge klar und unmißverständlich auszusprechen. Es mag aber vielleicht gerade diese Schwierigkeit am besten veranschaulichen, worum es geht. Egal ob man künstlerisch etwas Neues schaffen will oder in der Erkenntnis voranzuschreiten hofft, so sieht man sich im ganz Kleinen vor eine ähnliche Problematik gestellt, wie sie mit jedem Schöpfungsvorgang bis hin zum Größten verbunden ist. Von allem Erlernten, von allem Gewußten, von allen Vorurteilen und unumstößlich scheinenden Meinungen muß man sich, soweit das nur irgend geht, befreien. Wenn man sonst im Leben oft bedauern mag, mühsam Erlerntes wieder vergessen zu haben, so muß man jetzt gerade diese Kunst, absichtlich zu vergessen, ganz nachdrücklich üben – und das fällt zumeist noch viel schwerer als Vergangenes im Gedächtnis zu behalten. Auch nicht aus unterbewußten Tiefen heraus aufsteigende Gedankenfetzen dürfen das Urteil in eine vorgeprägte Richtung lenken. Man muß gleichsam mit einer ungeheuren kindlichen Naivität, zugleich aber mit hellwachem Bewußtsein dem Thema gegenübertreten. Keine vorgefertigten Antworten, die sich oft subtil als unumstößliche Denknotwendigkeiten maskieren, dürfen sich einmischen. Alles, auch das selbstverständlichst scheinende, muß zur Rätselfrage werden und man muß lernen, längere Zeit mit dieser Frage, mit dieser offenen und unbeantworteten Frage zu leben. Heute, wo schnelle kritische Meinungsäußerung, also eine verstandesmäßige Stellungnahme, so gefragt ist, fällt das nicht immer leicht. Aber der Verstand muß jetzt schweigen. Es geht darum, die gähnende Leere, den tiefen Abgrund des Nichtwissens zu erleben und zu ertragen, der durch die offene Frage aufgerissen wird. Man muß die Stille spüren, wo der Verstand gänzlich schweigt, aber das Bewußtsein zugleich wacher ist als gewöhnlich. Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit sind gefordert. Das eigene Denken schweigt und zugleich wächst immer stärker das intensive Herzensbedürfnis, ganz in das gestellte Thema einzutauchen und sich, wenn diese Formulierung erlaubt ist, liebevoll mit ihm zu verbinden. Liebe wird dann zur Voraussetzung der Erkenntnis. Sie heilt die Kluft, die unser Bewußtsein zwischen der Welt und uns selbst, zwischen erkennendem Subjekt und erkannt werden wollendem Objekt aufgerissen hat; werde eins mit ihm, nimm sein Wesen an – und es wird beginnen sich in dir selbst auszusprechen. Schaue die Rose, wenn du sie erkennen willst, nicht äußerlich an und quäle sie mit deinem Verstand; werde selbst im Geiste zur Rose, laß sie in deiner Seele blühen, und du wirst beginnen, ihr Wesen, das nun auch deines ist, zu ahnen. Philo von Alexandria hat sich darüber so ausgesprochen:

«Ich scheue mich nicht, mitzuteilen, was mir selbst unzählige Male geschehen ist. Manchmal, wenn ich in gewohnter Weise meine philosophischen Gedanken niederschreiben wollte und ganz scharf sah, was festzustellen wäre, fand ich doch meinen Geist unfruchtbar und steif, so daß ich ohne etwas fertig zu bringen, ablassen mußte und mir in nichtigem Wähnen befangen vorkam; zugleich aber staunte über die Gewalt des Gedanklich-Realen, bei der es steht, den Schoß der Menschenseele zu öffnen und zu schließen. Andermal aber fing ich leer an und kam ohne weiteres zur Fülle, indem die Gedanken wie Schneeflocken oder Samenkörner von obenher unsichtbar herabgeflogen kamen, und es mich wie göttliche Kraft ergriff und begeisterte, so daß ich nicht wußte, wo ich bin, wer bei mir ist, wer ich selber bin, was ich sage, was ich schreibe: denn jetzt war mir der Fluß der Darstellung gegeben, eine wonnige Helle, scharfer Blick, klare Beherrschung des Stoffes, wie wenn das innere Auge nun alles mit der größten Deutlichkeit erkennen könnte.»

Doch ehe es so weit ist, erfüllt sich das finstere Nichts der völligen Unwissenheit, vor das du dich durch deine Frage gestellt siehst, mit einer ungeheuren drängenden Spannung. Es brodelt in der verborgenen Tiefe, die regsame Energie ist spürbar und doch nicht zu fassen. Ein Chaos von Gefühlen und Willensimpulsen steigt auf, denen du aber ganz wach und nüchtern völlig neutral gegenüberstehen mußt. Dieses Chaos ist gleicher Natur wie jenes, von dem wir am Anfang gesprochen haben. Es ist die von regsamen Kräften erfüllte Finsternis, aus der heraus allein man schöpferisch wirken kann. Opfere deinen Verstand, opfere alle deine Lieblingsmeinungen und deine Liebe sei die Kraft, durch die sich die Rose in dir verwirklicht. Dann aber bricht eine Fülle dynamisch bewegter Gedanken hervor, die anfangs gar nicht bewältigt werden kann, die das Bewußtsein nicht zu fassen und festzuhalten vermag. Man spürt, alles, alles wonach man gefragt hat, ist in dieser Fülle überreichlich gegeben und doch vermag man es nicht zu halten. Für Augenblicke heben sich einzelne Gedanken heraus und verschwinden wieder, wie die Ameisen im Ameisenhaufen krabbeln sie scheinbar ziellos durcheinander und doch steckt ein verborgenes System hinter allem. Nur allzu leicht möchte man sich von dieser blendenden Helle dieses überschäumenden Gedankenwebens selbstvergessen mitreißen lassen, nur allzu gerne berauscht man sich daran – und gerade das ist eine Klippe, an der höchste Vorsicht geboten ist. Nur was man völlig nüchtern und klar selbstbewußt zu überschauen vermag, kann zur sicheren Erkenntnis führen. Sonst schleichen sich doch nur, ohne daß wir es bemerken, die trüben Fetzen der Erinnerung ein. Lieblingsmeinungen, wie sie unserem Charakter und unserer Lebenserfahrung entsprechen, drängen sich vor und maskieren sich als großartige und unumstößliche Einsichten und bringen uns schließlich ganz vom erstrebten Ziel ab. Es nützt nichts, so schwer es fallen mag, man muß diese beseligende Fülle geradezu gewaltsam unterdrücken, man muß den schöpferischen Erkenntnisvorgang willkürlich unterbrechen und die Helle, in der noch soviel Trug walten mag, wieder in der Finsternis versinken lassen. Das ist schmerzlich, aber kein schöpferische Prozeß, keine Erkenntnis, die aus solchem schöpferischen Gestalten entspringt, kann in einem Schwung bewältigt werden; er bedarf der rhythmischen Vertiefung. Man muß den Mut haben, das scheinbar Gewonnene wieder zu verlieren, um es später in einem neuen Anlauf wiederzugewinnen. Intellektuelle Eitelkeit hat hier nichts verloren, man darf nicht stolz sein auf das, was man bisher errungen hat – es hat noch keinen wahren Wert. Geduld ist gefordert, Ruhe und Ausdauer – und Liebe. Lerne mit deinem Thema über Tage, über Wochen, Monate, vielleicht Jahre zusammenzuleben, lasse deine Liebe reifen und sich wieder und wieder von neuem beweisen. Dämpfe die Euphorie des ersten Augenblicks, die dich berauschen mag. Beweise deine Treue, dein nicht versiegendes ehrliches, nicht erlahmendes Interesse:

«Wenn der Geist, von der Liebe ergriffen, in das Heiligste seinen Flug nimmt, freudigen Schwunges, gottbeflügelt, so vergißt er alles andere und sich selbst, er ist nur von dem erfüllt und an den geschmiegt, dessen Trabant und Diener er ist, und dem er die heiligste und keuscheste Tugend als Rauchopfer darbringt.»

Nur wenn du so von ganzem Herzen gesonnen bist, beginnen die Dinge der Welt vernehmlich und ohne Trug zu deinem Geist zu sprechen. Doch selbst dann, wenn du schon so weit gekommen bist, steht die schwerste Prüfung erst noch bevor. Im Geist darfst du dich nun der Wahrheit vereint fühlen; ein Zipfel des Geheimnisses, und sei es noch so winzig, ist gelüftet. Wie keimhaft auch immer – es ist der Weltgeist der in dir spricht, du lebst in ihm und er in dir. Und doch ist der Weg noch nicht zu Ende, der schmerzlichste Teil steht dir noch bevor. Ein Künstler, ein Maler etwa, von wirklicher Inspiration ergriffen, mag sich in seiner Seele in lebendigsten Imaginationen Bilder seines zu schaffenden Werkes entwerfen. Dynamisch in den unglaublichsten Farben und Formen entrollen sie sich seinem tiefsten inneren Erleben – das eigentliche Kunstwerk, das physisch greifbare und sinnlich schaubare Gemälde ist damit noch lange nicht geschaffen. Das aber fordert gerade die Kunst, daß das geistig Erfahrene sich im sinnlich Geschauten verwirklicht:

Das Erscheinen des Geistigen durch das Äußere, das ist das Schöne.

Und ebenso darf man von echter Erkenntnis erst dort sprechen, wo sich das, was geistig erlebt wird, in klaren, verständigen Begriffen ausdrückt. Gerade das ist aber niemals wirklich möglich. Der lebendig bewegte schaffende Geist läßt sich niemals im erstarrten Sein der Begriffe darstellen und genauso wenig läßt sich eine bewegte innerlich erlebte Imagination im äußeren Bild darstellen. Es sind immer nur ganz einseitige, eindimensionale Schattenbilder, die wir so hervorbringen können. Der Geist ist ein beständig Werdendes, er ist niemals, sondern wird stets von neuem, während das Geschaffene im starren Sein verharrt. Und doch kann der Geist nicht anders, als sich darin zu verwirklichen, daß er die letztlich notwendig unvollkommene Schöpfung hervorbringt. Je enger die geradezu naturgesetzlichen Grenzen sind, in die sich der schaffende Geist hineinzwängen muß, je mehr es ihm gelingt auch das härteste Material und den steifsten Begriff noch zum Abdruck seines Wirkens zu gestalten, desto mehr beweist er seine ungebrochene Kraft. Hier wie nirgends anders gilt Goethes Wort, wie er es in seinem Gedicht "Natur und Kunst" ganz klar und deutlich ausspricht:

Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

Es ist das strenge Gesetz, das der schaffende Geist selbst in die Schöpfung hineingelegt hat, dem er sich aber von da an auch im weiteren Schaffen fügen muß. Was wäre das für ein Gott, der die Welt nur so nach seinem Belieben von außen stieße. Nein, schaffend bindet er sich liebevoll an sie und nimmt den schier unendlichen Schmerz auf sich, nun an ihre engen Grenzen gebunden zu sein. Ein Gott, der erst die von ihm selbst bestimmten Naturgesetze aufheben müßte, um sich durch ein solches "Wunder" vor den Augen der Menschen zu beweisen, wäre kein rechter Gott:

Was wär ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen,
So daß, was in Ihm lebt und webt und ist,
Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt.

Haß und Liebe, Streit und Versöhnung sind die verborgenen Triebkräfte des Naturgeschehens, aber sie sind vorallem auch die Ursubstanzen der menschlichen Seele. Alles Seelenleben, nicht nur unser Gefühlsleben im engeren Sinn, entfaltet sich zwischen diesen beiden entgegengesetzten Polen. In jeder einzelnen Seelenregung wirken die Kräfte der Sympathie, die nach Vereinigung strebt, und der Antipathie, welche die Trennung sucht, dynamisch einander fordernd zusammen. Das ist beispielsweise schon bei der einfachsten Sinneswahrnehmung der Fall. Um überhaupt etwas sinnlich wahrnehmen zu können, bedarf es ja nicht nur eines gesunden Sinnesorgans, sondern die Seele muß das, was ihr vermittels des Organs geboten wird, aktiv ergreifen. Ein noch so gesundes und wohlgebautes Auge nützt uns gar nichts, wenn sich die Seele nicht mit den optischen Eindrücken "sympathisch" verbinden will. Tatsächlich sind genügend Fälle sogenannter pathologischer "seelischer Blindheit" bekannt, durch die manchen Menschen trotz völlig gesunder Augen die Lichtwelt verschlossen bleibt. Wir müssen, ohne das uns das zumeist bewußt ist, sehen wollen, um überhaupt sehen zu können. Es sind die genannten Kräfte der Sympathie, die uns überhaupt erst befähigen, uns seelisch der Lichtwelt zu nahen. Und doch genügt es auch wieder nicht, sich nur sympathisch durch das Medium der Augen mit unserer Umgebung zu verbinden. Wollten wir nur die Kräfte der Sympathie in uns wecken, würde alles zu einer ununterschiedenen und ununterscheidbaren Masse zusammenfließen, in der wir nichts einzelnes mehr erkennen könnten. Vielmehr heftet sich unser Blick sympathisch auf diese oder jene Einzelheit, während wir den ganzen Rest, der unser Sichtfeld erfüllt, antipathisch zurückweisen; gerade dadurch werden wir uns erst besagter Einzelheit bewußt und vermögen sie gesondert vom Rest der Welt zu betrachten. Wo immer wir uns auf etwas konzentrieren, stoßen wir alles andere von uns weg. Und vorallem müssen wir uns selbst, unser betrachtendes Subjekt, deutlich scheiden von dem zu betrachtenden Objekt. Nur so ist überhaupt eine gegenständliche Wahrnehmung möglich. Wollten wir in vollendeter Sympathie mit dem angeschauten Objekt verschmelzen, müßte es im selben Moment als Objekt aus unserem Bewußtsein verschwinden. Unser räumliches, gegenständliche orientiertes sinnliches Bewußtsein ist überhaupt nur dadurch möglich, daß beide Kräfte, Sympathie und Antipathie, gemeinsam unser seelisches Erleben bestimmen.

In seiner "Theosophie", einem Grundlagenwerk seines anthroposophischen Wirkens, hat Rudolf Steiner sehr deutlich darauf hingewiesen, wie sich die Seelenwelt stufenweise danach gliedert, wie jeweils die Kräfte der Sympathie und Antipathie zusammenwirken. Auf den niedersten Stufen dominieren jene Impulse, die alles fremde Seelische antipathisch zurückstoßen und sich nur mit ganz wenigem sympathisch verbinden. Je höher man in der Seelenwelt hinaufsteigt, desto reiner können die Sympathiekräfte erstrahlen. Sieben solcher Regionen bzw. Entwicklungsstufen des Seelenlebens hat Rudolf Steiner unterschieden:

  1. Region der Begierdenglut
  2. Region der fließenden Reizbarkeit
  3. Region der Wünsche
  4. Region von Lust und Unlust
  5. Region des Seelenlichtes
  6. Region der tätigen Seelenkraft
  7. Region des Seelenlebens.

Es ist hier nicht der Ort, das weiter auszuführen, was Steiner in seiner "Theosophie" sehr ausführlich dargelegt hat. Nur darauf soll noch hingewiesen werden, wie deutlich sich die bloße Begierde, der "gemeine" Eros, von wirklicher Liebe unterscheidet. Die Begierde gehört der untersten Region der Seelenwelt an, wo sich die Seele ganz egoistisch in sich selbst verschließen will und sich mit Fremdem nur des eigenen Genusses willen verbindet. Die echte Liebe, der "göttliche" Eros, führt uns bis hinauf in die Region des Seelenlebens, wo sich die Seele so weit öffnet, daß sie, ohne sich zu verlieren, in die ganze sie umgebende Seelenwelt eintaucht und in dieser zu einem neuen, höheren Bewußtsein erwacht, das alle Trennung überwindet und doch zugleich die eigene Identität bewahrt und darüber hinaus bereichert durch all das, was sie in den anderen Seelen erfahren darf.

Die Liebe zwischen den Geschlechtern als Sehnsucht des Menschen nach seiner verlorenen Hälfte

Von all den Polaritäten, die das äußere Dasein bestimmen, berührt eine das menschliche Leben ganz besonders intim: die Polarität von Mann und Frau. Wenn wir den irdischen Menschen betrachten, können wir ihn nicht so einfach als Repräsentanten des Menschlichen schlechthin auffassen, sondern wir müssen berücksichtigen, daß er uns zunächst stets in einseitiger Form, weiblich oder männlich, gegenübertritt. Gegenüber allen andren Differenzierung der Menschheit nach Rasse, Volk und Sippe erscheint die Geschlechtertrennung als die fundamentalste.

Man hat in alten Zeiten zurecht den Menschen als Mikrokosmos aufgefaßt, der alle schöpferischen Kräfte, die in der großen Welt, in der ganzen Natur draußen, im Makrokosmos wirken, in sich vereinigt. Der Mensch kommt diesem menschlichen Idealbild umso näher, je vollständiger, je allseitiger und harmonischer er diese Kräfte des gesamten Makrokosmos widerspiegeln kann; umso mehr ist er, um es mit einem alten Ausdruck zu bezeichnen, Ebenbild der Gottheit, Ebenbild eben jener schöpferisch-geistigen Kraft, welche die ganze Schöpfung hervorgebracht hat. Dadurch unterscheidet sich der Mensch gerade vom Tier, daß letzteres den Makrokosmos nur sehr einseitig – und dadurch verzerrt – in seinem Wesen ausdrücken kann. Zwar vermag es einzelne Aspekte es kosmischen Urbildes deutlicher und intensiver als der Mensch in den irdischen Verhältnissen darzuleben, aber es ist dadurch auch in allen seinen Lebensäußereungen arttypisch in eine sehr enge Richtung gebunden und kann nie zu jener viel freieren Lebensgestaltung aufsteigen, die den entwickelten Menschen auszeichnet. Wohl ist das menschliche Lebensbewußtsein im einzelnen gegenüber dem des Tieres deutlich reduziert. Keines der menschlichen Sinnesorgane etwa steigt zu der Höhe und Trennschärfe auf, die in einzelnen Tiergattungen erreicht wird. Der scharfe Blick des Adlers übertrifft den des Menschen, der Geruchssinn des Hundes ist millionenfach sensibler als unserer, und wir sind weit entfernt davon, die Nahrung, die wir aufnehmen, so tief bis in das Innerste des Körpers zu schmecken wie etwa die Kuh auf der Weide oder die Schlange, die stundenlang genußvoll ihre Beute verdaut und diesen Prozeß in gewaltigen inneren Traumbildern erlebt. Lust und Unlust sind bei den höheren Tieren viel größeren und heftigeren Schwankungen unterworfen, die wir uns mit unserem verblaßten Gefühlsleben kaum vorzustellen vermögen. Die Triebe brennen in den Tieren so unerbittlich und intensiv, daß ihnen das Tier rückhaltlos folgen muß, solange sie nicht befriedigt oder durch die streng geregelte rhythmische Ordnung der gesamten Natur instinktiv gelöscht werden. Das noch so schwache menschliche Ich, das zum individuellen Stellvertreter der universellen makrokosmischen Naturordnung berufen ist, wäre in einer derart intensiv flutenden Bewußtseinsglut rettungslos verloren und würde wie das Floß in wilder Brandung scheitern. Das Tier ist durch seine übermäßigen Begierden und Instinkte streng an einen "Seelenort" – wenn dieser vergleichsweise Ausdruck erlaubt ist – gebannt, während sich der Mensch weitgehend frei im gesamten "Seelenraum" bewegen kann und immer freier wird, je mehr er auch die letzten Reste tierischer Triebhaftigkeit, die seinem Wesen noch innewohnen, läutern kann. Was das Tier aus blindem Trieb verfolgt, muß der Mensch aus freiem Willen erstreben, und er kann sein ganzes Wesen umso mehr der Herrschaft seines Ich unterstellen, je mehr er sich zu einem allseitig ausgewogenen Abbild des Makrokosmos macht, dessen Schoß er einst naturhaft unbewußt entsprungen ist.

Kein Mensch vermag heute schon den Makrokosmos vollkommen ausgewogen widerzuspiegeln. Die Bedeutung der Rassen und Völker, die noch eine solche leise Einseitigkeit darstellen, ist zwar schon weitgehend dahingeschwunden und wird künftig völlig unbedeutend sein. Ein großer Riß geht aber seit Beginn ihrer irdischen Verkörperung durch die Menschheit und wird bedeutsam sein, solange sich Menschen in dichten physischen Leibern verkörpern werden: die Geschlechtertrennung.

Der Sinn der Geschlechtertrennung liegt in ihrer allmählichen Überwindung durch die Liebe. Dabei müssen alle Stufen von der bloß begierdenhaften Geschlechtsliebe bis zur höchsten Form rein geistiger Liebe, wo ein Ich sich dem anderen Ich unmittelbar intuitiv verbindet, durchgemacht werden. Keine Stufe kann dabei übersprungen werden, alle müssen früher oder später durchlebt werden, aber nur wenige steigen gegenwärtig schon bis zur höchsten Form der Liebe auf. Daß auch große Geister alle diese Ebenen durchschreiten müssen, zeigen etwa die "Bekenntnisse" des Heiligen Augustinus sehr deutlich:

"Ich kam nach Karthago, und mich umrauschte überall das Gewirre lasterhafter Liebeshändel. Noch liebte ich nicht und begehrte zu lieben, und in tief verhüllter Bedürftigkeit zürnte ich mir, daß ich mich nicht liebebedürftiger fühlte. Der Liebe hold sucht ich den Gegenstand meiner Liebe, aber ich haßte den Seelenfrieden und den von Fallstricken freien Weg. Der Hunger war mir eingepflanzt von dir selbst, meiner innerlichen Speise und ich hungerte doch nicht nach dir, mein Gott, war ohne Verlangen nach der unvergänglichen Nahrung, nicht als wär' ich voll von dir gewesen, je leerer ich von ihr war, desto mehr widerte sie mich an. Uebel gieng es meiner Seele, wund schon warf sie sich hinaus in die eitle Sinnenwelt in elender Gier nach dem Sinnenkitzel, um meiner Wunden Pein an ihm abzureiben. Freilich würde auch das Sinnliche nicht geliebt, wenn es keine Seele hätte, aber Lieben und Geliebtwerden war mir am süßesten, wenn ich auch der Körperreize der Liebenden genoß. So beflecke ich den Quell der Zuneigung mit unreiner Begehrlichkeit und umwölkte ihr Licht mit der höllischen Wollust. Und doch geberdete ich mich, der ich so schmutzig und verunehrt war, ganz fein und artig in meiner überströmenden Eitelkeit. So stürzte ich denn in die Liebe, von der ich gefangen zu werden wünschte. Mein Gott und mein Erbarmer, mit welch bitterer Galle und mit welch süßer Huld hast du mir diesen Genuß vergällt, da ich geliebt wurde und so unvermerkt in die Fesseln des Genusses fiel, in meiner Freude gebunden von schmerzbringenden Banden, in denen ich geschlagen ward von den glühenden Eisenruthen der Eifersucht, des Argwohns, der Furcht, des Zorns und des Streites!"

"Damals hatte ich eine Freundin; sie war mit mir nicht in gesetzlicher Ehe verbunden, meine umherschweifende Leidenschaft hatte sie töricht aufgespürt. Doch hatte ich nur sie und hielt ihr die Treue. Aber an ihr und mir bewies sich der Unterschied des ehelichen Bundes, der nur für Kindererzeugung geschloßen wird, und der sündhaften Neigung, wo man Kinder zeugt, ohne es zu wünschen, nötigen sie auch durch ihre Geburt, sie zu lieben."

Jede schöpferische Tat ist eine Vergeistigung des Zeugungsaktes. Der Geist ist niemals, sondern wird beständig, er geht daher immer auf kreative Neuschöpfung aus.

HELENA.
Liebe, menschlich zu beglücken,
Nähert sie ein edles Zwei,
Doch zu göttlichem Entzücken
Bildet sie ein köstlich Drei.

Von der Blutsliebe führt der Weg zur freien Liebe, die auf geistiger Gemeinschaft beruht. In dieser geistigen Gemeinschaft kann sich Höheres offenbaren. Ein Beispiel ist die Geistgemeinschaft von Rudolf Steiner und seiner späteren Gattin Marie Steiner, durch die erst die Anthroposophie möglich wurde. Die höchste Stufe dieser vergeistigten Liebe wird durch das Christuswort bezeichnet:

"Wenn zwei in meinem Namen vereinigt sind, dann bin ich mitten unter ihnen..."

Echte Partnerschaft zwischen den Geschlechtern bezieht alle Wesensglieder mit ein: Physischen Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich – dann wird gerade dadurch die Brücke gespannt, die Himmel und Erde, Geistwelt und Sinneswelt miteinander verbindet. Eine gute Ehe kann weder einseitig auf bloßer sexueller Anziehung beruhen, noch auf reiner körperloser Geistgemeinschaft:

Physischer Leib

Sexualität

Ätherleib

Lebensgemeinschaft

Astralleib

Seelenverwandtschaft

Ich

geistige Vereinigung (Kommunion)

So sind die beiden Geschlechter unabdingbar aufeinander angewiesen; wo immer sie sich egoistisch bloß in ihren eigenen Kreis zurückziehen, sind sie schon dem Widersacher verfallen, wohingegen die aufrichtige Liebe der Partner zueinander das Tor der Geisteswelt öffnet, in dem Sinne, wie wir es etwa in Mozarts "Zauberflöte" hören:

"Mann und Weib, Weib und Mann, reichen an die Gottheit an!"

Diese letzte, höchste Form der Liebe, wo sich Ich dem Ich geistig verbunden fühlt, was das Wesen der eigentlich christlichen Liebe ausmacht, drückt Alfons Petzold im folgenden Gedicht so aus:

DAS HOHE LEUCHTEN

Wer ist auf dieser Erde mir nicht fremd
und kann so ganz mein kleines Dasein deuten?
Wer hört, von keinem Mauerring gehemmt,
die helle Glocke meiner Seele läuten ?

Mein Wandern durch den Tag und durch die Nacht
ist einsam sehr, soviel ich mich auch mühe,
daß mir ein zweites Licht entgegenfacht
und mit dem meinen froh in einem glühe.

Ja, viele Menschen stehen da und dort
und schauen auf bei meinem starken Schreiten
und sprechen manchmal auch ein grüßend Wort,
doch ist dies voll versteckter Heimlichkeiten.

Und ängstlich hüten sie ihr Pünktchen Licht,
verschließen es mit ihrer Hände Hüllen,
aus denen nie das hohe Leuchten bricht,
um alle Straßen dieser Welt zu füllen.

Doch werden einmal alle Hände sich
zu einer liebesschweren Hand verschlingen
und alle Wesen zu dem letzten Ich,
zu Gott in letzter frommer Einheit dringen.

Ein Paradoxon tut sich dabei auf, das zu denken geben sollte: Der Geist ist immer individuell – und das ist in einem doppelten, scheinbar widersprüchlichen Sinn zu verstehen: Er ist einerseits individuell in dem Sinne, daß man stets von einzelnen, deutlich unterscheidbaren Geistwesen sprechen muß; jeder einzelne Mensch ist ein solches Geistwesen. Anderseits ist er aber auch individuell in der eigentlichen Bedeutung des Wortes, nämlich unteilbar – d.h. es kann vom Geist nicht in der Mehrzahl gesprochen werden, der Geist ist immer nur einer, und ein und derselbe Geist wirkt ungeteilt in allen Geistwesen.

Liebesdämonen

Daimonion, so nennt Sokrates sein höheres Ich, zu dem sich unser bloßes niederes Ego mehr und mehr aufschwingen soll. Das höhere Ich steht dabei notwendig in ständiger Auseinandersetzung mit den Widersachermächten, mit Luzifer und Ahriman. Goethes Faust gibt dazu ein recht anschauliches Beispiel und zeigt sehr deutlich, wie der irdische Mensch niemals vollkommen sein kann, daß sich sein geistiger Wert aber an seinem unermüdlichen Streben mißt, daß ihn reif für die überirdische Gnade macht, die ihn alleine erlösen kann:

Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben teilgenommen,
Begegnet ihm die selige Schar
Mit herzlichem Willkommen.

Sokrates im Symposion nennt Eros den jüngsten aller Götter; der als Daimon, als höheres Ich, zwischen Göttern und Menschen steht. Er ist nicht schön oder weise oder gut, aber er strebt nach Schönheit, Weisheit und Güte.

Göttliche Liebe und göttlicher Zorn

Die äußere Schöpfung gipfelt im sinnlichen Licht ("am farbigen Abglanz haben wir das Leben"). Nun muß aber die äußere Finsternis abgestreift werden. Der Zorn Gottes ist das Spiegelbild der göttlichen Liebe. Liebe will das geliebte Wesen zur höchsten Vollkommenheit reifen lassen; dazu muß aber das Unvollkommene abgestreift werden – und das erscheint aus irdischer Perspektive als Zorn Gottes.

Die Neuschöpfung des Menschen aus seinem Ich heraus muß beginnen mit der Vergeistigung des sinnlichen Lichts und führt zur Imagination, überwindet die Entzweiung und Disharmonie und steigert sich zur Inspiration, zum Erlebnis der Sphärenharmonie und mündet schließlich in der Intuition, die letztlich die reale Vereinigung mit der ganzen Welt, also die wirkliche Kommunion des Menschen mit der Welt darstellt, die nicht mehr die alte, sondern eine neue Welt ist. Schon in seiner Philosophie der Freiheit spricht Rudolf Steiner von der moralischen Intuition:

"Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen."

Dieses Leben in der Liebe zum Handeln ist eine weltschöpferische Kraft, wie sie auch Alfons Petzold geahnt hat:

ICH BIN DIE WELT

Der Erde Dasein ist in mir begründet,
ich bin ihr Raum und bin auch ihre Zeit,
und was der Tag an Kraft in mir entzündet,
das nimmt sie auf in ihre Ewigkeit.

Ich bin die Welt, in meinem Pulsgetriebe
sagt dies mir laut und deutlich jeder Schlag,
und was mich ewig macht, das ist die Liebe,
mit der ein Gott erschuf den ersten Tag.

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