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Goethes Faust

an der Schwelle zum dritten Jahrtausend

Wolfgang PETER 2000

 

Inhalt


Einleitung

Wir haben vergangenes Jahr, 1999, den 250. Geburtstag Goethes gefeiert, und man muß sich schon fragen, ob in einer schnellebigen Zeit wie der unseren, in der jedes Jahrzehnt, ja beinahe schon jedes Jahr unendlich viel Neues bringt, Goethes Werk uns noch wirklich etwas bedeuten kann. Nämlich mehr bedeuten kann als eine bloße nette schöngeistige Unterhaltung, ob es uns etwas sein kann, was uns hilft, Licht auf die drängenden Rätselfragen zu werfen, die uns bewegen oder zumindest bewegen sollten. Unbestritten gilt Goethes "Faust" als eines der größten Werke der deutschsprachigen Literatur, ja wahrscheinlich sogar der Weltliteratur. Es darf durchaus in eine Linie treten mit Homers "Ilias" und "Odyssee", mit Dantes "Göttlicher Komödie" oder der "Baghavad Githa". Aber wieviel bedeuten uns denn auch diese Werke wirklich, wie weit berühren sie uns in unserem modernen Weltverständnis und Weltempfinden wirklich tief innerlich?

Kürzlich bat mich jemand, ihm kurz den Inhalt des zweiten Teiles der Fausttragödie zu schildern – der erste Teil mit der Gretchentragödie ist ja weithin bekannt, den zweiten Teil kennt man kaum im Detail – da kam, als ich gerade die vielfältigen Verwicklungen der "Klassischen Walpurgisnacht" schildert, die sich in einer unglaublichen Fülle mythologischer Bilder entfaltet, der spontane Ausruf: "Das klingt ja wie «Virtual Reality»!" Also "Faust" im Cyberspace? Nun, Goethes "Faust" bietet viel mehr als die Phantastereien, die heute auf unsere Computerbildschirme gezaubert werden, aber daß diese flimmernden Bilderwelten jetzt so gefragt sind, namentlich bei den Jugendlichen, zeigt doch, daß ein sehr starkes Bedürfnis nach einem phantasieerfüllten Bilderleben vorhanden ist. Das Bild, das lebendig bewegte, oder besser gesagt, das hysterisch flackernde Bild, tritt immer mehr in den Vordergrund, egal ob in den Unterhaltungsmedien, im Fernsehen, in den Computerspielen, oder in der graphischen Veranschaulichung von Wirtschaftsdaten oder naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen.

Das kann einem vielleicht als aller erstes auffallen, daß die ganze künstlerische Komposition des Faust höchst modern wirkt. Es ist durchaus kein im klassischen Sinn von A – Z durchkomponiertes Drama. Es ist bruchstückhaft, vielfach in sich zerrissen, wie aus einzelnen Splittern zusammengeleimt. Ernst und Humor, Derbes und Edles sind bunt gemischt – und doch bildet alles eine wunderbare Einheit, ist ein organisch gewachsenes Ganzes, das sich kaum irgendeiner Stilrichtung zuordnen läßt, sondern ganz solitär erscheint.

Goethe breitet jedenfalls in seinem Faust eine reiche Bilderfülle vor unseren Augen aus, die auch den modernen Zuschauer zu faszinieren vermag. Und doch steckt noch viel mehr dahinter. Donnerstag abend, den 29. [25.] Januar 1827 sagte Goethe zu Eckermann.

»Aber doch«, sagte Goethe, »ist alles sinnlich und wird, auf dem Theater gedacht, jedem gut in die Augen fallen. Und mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen, wie es ja auch bei der ›Zauberflöte‹ und andern Dingen der Fall ist.«

Wir wollen versuchen, uns ein wenig an diesen höheren Sinn, den Goethe in seinen Faust hineingeheimnist hat, heranzutasten, um zu sehen, inwiefern er auch uns Gegenwartsmenschen etwas bedeuten kann.

Die Grenzen des modernen Weltbildes

Die Wissenschaft hat das formal logische Denke heute bis auf die Spitze getrieben. Sie hat eine unendlich erscheinende Fülle von Fakten über die äußere Welt zusammengetragen und in abstrakte Gesetze eingefaßt. Aber sie kann, und das wird immer deutlicher, die zentralen Fragen unseres Daseins und des Weltseins nicht erfassen. Sie ist wunderbar geeignet, um technische Produkte, um Maschinen zu entwerfen, in einem Maße, wie das vorher niemals in der Menschheitsgeschichte der Fall war, aber der Weg zu einer tieferen Erkenntnis ist ihr überall vermauert. Physiker haben die materielle Welt durchforscht und dabei unendlich viele Entdeckungen gemacht aber niemand unter ihnen versteht, was die "Materie" eigentlich ist. Man hat gelernt, geschickt mit ihr umzugehen, aber was sie eigentlich sei, kann man nicht sagen. Der Biologe ist bewandert in Genetik oder Molekularbiologie – aber was das "Leben" ist, weiß er nicht. Der Mediziner weiß tausende Krankheiten zu nennen, aber er vermag sich keinen wirklichen Begriff von der "Gesundheit" zu machen. In der Juristerei haben wir das Recht ohne "Gerechtigkeit", und in der Theologie eine Lehre von Gott ohne wirklichen Gottesbegriff. Alle wirkliche Erkenntnis erstirbt in der erstarrten formalen Logik, und eigentlich müßte die Forscher und Mediziner, die Juristen und Theologen unserer Zeit in sokratischer Weisheit ausrufen: "Ich weiß, daß ich nichts weiß". So tut es jedenfalls Faust in seinem berühmten Monolog:

Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh' ich nun, ich armer Tor,
Und bin so klug als wie zuvor!

Alles, was meßbar, zählbar und wägbar ist und sich durch den rationalen Verstand begreifen läßt, bestimmt das moderne Erkenntnisstreben, fließt aber auch in alles das ein, was etwa unsere sozialen Verhältnisse bestimmt und nach erklügelten Gesetzen lenkt. Man spricht vom "göttlichen Gesetz", vom "positiven Recht", aber auch vom "Naturgesetz", und das macht nur allzu deutlich, wo unser moderner Intellekt seine Wurzeln hat: im juristischen römischen Denken und in der lateinischen Sprache.

Lateinisch war nicht nur die Gelehrtensprache des ganzen Mittelalters, es war auch bestimmend für die aufkeimende neuzeitliche Naturwissenschaft. Es ist diese Sprache, in der sich Faust seiner Studien beflissen hat, die Sprache der Logik und des folgerichtigen kausalen Denkens schlechthin. Das Lateinische war, und darin liegt durchaus seine Bedeutung für die menschheitliche Entwicklung, ein Erziehungsmittel, das die Menschen zur Logik hingeführt hat. Aber es hat das Denken und damit auch unser Weltbild entscheidend und nachhaltig einseitig geprägt. Die Grenzen der Sprache bezeichnen zugleich die Grenzen unseres Weltverständnisses – was ganz klar ist, solange man sich vorwiegend auf das verbale Denken stützt. Es gibt auch andere Formen des Denkens, z.B. das bildhafte Denken, und diese werden künftig mehr Bedeutung gewinnen müssen. Der französische Rationalismus hat den sprachgebundenen Gedankenfaden aufgenommen und weitergesponnen, ist doch die französische Sprache dem Lateinischen zunächst verwandt. Beide, das Französische wie das Lateinische, sind typische Satzsprachen, und die Logik beschreibt eigentlich nichts anderes als die korrekte grammatikalische Struktur des Satzes. Sie ist eine rein abstrakte Form ohne jeglichen Gehalt, ein Gefäß ohne Inhalt. Sie bestimmt, ob eine Aussage logisch richtig gebaut ist, wie die grammatikalischen Regeln bestimmen, ob ein Satz richtig formuliert ist, sie sagt aber nicht das geringste über den Wahrheitsgehalt aus. Das Denken wurde so einerseits immer "logischer", immer "intelligenter", aber zugleich auch immer wirklichkeitsfremder. Und viele moderne Diskussionen gemahnen an Goethes Faust:

Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten,
An Worte läßt sich trefflich glauben,
Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben.

In der formalen Logik werden die einzelnen Worte zu bloßen Platzhaltern, zu Variablen, die sich mit einem beliebigen Inhalt erfüllen können, ohne daß dadurch die formale Richtigkeit der Aussage berührt wird. Ludwig Wittgenstein hat das so ausgedrückt:

"Der Gedanke ist der sinnvolle Satz. Die Gesamtheit der Sätze ist die Sprache. Der Mensch besitzt die Fähigkeit Sprachen zu bauen, womit sich jeder Sinn ausdrücken läßt, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie und was jedes Wort bedeutet. – Wie man auch spricht, ohne zu wissen, wie die einzelnen Worte hervorgebracht werden."

Es läßt sich mit der Logik aber, da sie nur formalen Charakter hat, nicht nur jeder Sinn korrekt ausdrücken, sondern auch jeder Unsinn. Manche wissenschaftliche oder politische Aussagen unserer Tage scheinen sehr deutlich in letztere Kategorie zu fallen.

Goethes "Faust", insbesondere der zweite Teil, scheint nun jeder Logik zu spotten. Nirgends ist auf den ersten Blick ein durchgehender Gedankenfaden zu finden. Viele Fäden laufen parallel, reißen ab oder werden neu angeknüpft. Widersprüche scheinen sich aufzutürmen, und das ganze Geschehen entrollt sich in einer unglaublichen Bilderfülle, die zunächst kaum zu fassen und zu durchschauen ist. Der eingleisige logische Satzfluß tritt zurück, die einzelnen Worte gewinnen hier eine ganz andere, tiefere Bedeutung. Sie sind nicht nur austauschbare Variablen in einer logischen Konstruktion, sie sind die Quelle, aus der sich die Bilder aufbauen, welche die Szene beleben. Jeder einzelne Laut wird hier wichtig und hilft, diese Bilder zu gestalten. Goethes "Faust" will nicht zuallererst logisch begriffen, sondern imaginativ geschaut werden. Die Sprache spricht hier nicht primär den logischen Verstand an, sondern will künstlerisch gestaltet werden. Immer wieder beweist Goethe seine enorme sprachschöpferische Kraft. Seinem Genie ist die Sprache nicht etwas fertig Gegebenes, Abgestorbenes, sondern ist in beständigem lebendigen Werden begriffen. Nur mit einem solchen lebendigen Sprachempfinden läßt sich Lebendiges, läßt sich Seelisches erfassen, während es die Logik immer nur mit dem Toten zu tun hat. All die Kräfte sind in Goethes Sprache wirksam, die uns Rudolf Steiner später in Form der Sprachgestaltung bewußt und in der Eurythmie sichtbar gemacht hat.

Mit Abstraktionen reicht man nicht an die Wirklichkeit heran, das empfand Goethe eben sehr stark, das empfindet auch Faust, und das beginnen heute immer mehr Menschen instinktiv zu fühlen. Nicht nur die Außenwelt kann man dadurch nicht in ihrem tieferen Wesen erfassen, auch die Innenwelt, das eigene Seelenleben vertrocknet dadurch immer mehr, so sehr, daß man Gefahr läuft sich selbst zu verlieren. Und das ist viel weniger eine abstrakte Erkenntnisfrage, sondern ein bestimmendes Lebensgefühl, das sich heute in der Seelentiefe vieler Menschen ausbreitet – namentlich bei den sogenannten "Gebildeten" – kein Wunder, sind sie doch am meisten vom abstrakten Intellekt angekränkelt. Eine Empfindung breitet sich, ohne daß es den meisten ganz bewußt wird, aus, die Fichte in seiner "Bestimmung des Menschen" so treffend beschrieben hat:

Es giebt überall kein Dauerndes, weder ausser mir, noch in mir, sondern nur einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiss überall von keinem Seyn, und auch nicht von meinem eigenen. Es ist kein Seyn. - Ich selbst weiss überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder: - Bilder, die vorüberschweben, ohne dass etwas sey, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. - Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt; in einen Traum, der in einem Traume von sich selbst zusammenhängt. Das Anschauen ist der Traum; das Denken, - die Quelle alles Seyns und aller Realität, die ich mir einbilde, meines Seyns, meiner Kraft, meiner Zwecke, - ist der Traum von jenem Traume.

Und diese Bilder, von denen Fichte spricht, sind ja nicht mehr vollgesättigte Bilder, sondern blasse Schemata, aus denen man das ganze Weltgeschehen erklären möchte. Man spricht von Atomen, von Genen, vom Urknall, von Menschenrechten usw., aber das sind ja alles keine Wirklichkeiten, sondern fadenscheinige Gedankenkonstrukte. Die Atome, die Gene, sie existieren nirgends anders, als in unseren Köpfen, in unserer Vorstellung. Das "Ding an sich", die wahre Wirklichkeit, ist unerkennbar, hat Kant gesagt. Daß wir bloß von unseren "Vorstellungen" wissen können, wird zum philosophischen Dogma des 19. Jahrhunderts. Schopenhauer hat das in seinem Werk "Die Welt als Wille und Vorstellung" so ausgedrückt:

»Die Welt ist meine Vorstellung:« - dies ist die Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in das reflektirte abstrakte Bewußtseyn bringen kann: und thut er dies wirklich; so ist die philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten. Es wird ihm dann deutlich und gewiß, daß er keine Sonne kennt und keine Erde; sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt; daß die Welt, welche ihn umgiebt, nur als Vorstellung da ist, d.h. durchweg nur in Beziehung auf ein Anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist.

Diese Vorstellungen setzen sich immer mehr an die Stelle der Wirklichkeit, verdrängen sie. Unsere Sinne sind heute schon sehr abgestumpft, und je mehr sie von Reizüberflutungen überlastet werden, desto mehr stumpfen sie ab. Die Physik, die sich nur auf das Berechenbare, auf das Quantitative konzentriert, schildert uns schon lange eine gespenstische Welt, in der die Sinnesqualitäten, die Farben, Töne usw. keinen Platz mehr haben. Farben werden durch Wellenlängen ausgedrückt, Töne durch Schwingungszahlen. Die Welt, die uns die Physik schildert, ist eine farblose und stumme Welt. Was jetzt noch bloße physikalische Theorie ist, droht nach und nach reales Erleben zu werden. Darauf hat Rudolf Steiner nachdrücklich hingewiesen. Wenn die Entwicklung so weiter geht wie jetzt, werden wir uns mehr und mehr einer einförmig grauen Welt gegenüber sehen, die immer mehr verblaßt. Langsam aber sicher verlieren wir das Realitätsgefühl der Außenwelt gegenüber. Die Menschen fühlen sich wie isoliert von ihrer Umwelt und insbesondere von ihren Mitmenschen. Die sozialen Konsequenzen liegen auf der Hand und sind heute durchaus schon spürbar.

Noch schlimmer ist es um unsere Innenwelt bestellt. Wenn man nur vergleicht, wie reich noch in der Goethe-Zeit das Gefühlsleben der Menschen entwickelt war und wie armselig es sich heute darstellt, dann ist der Verfall des menschlichen Seelenlebens nur all zu deutlich. Was übrig bleibt, sind wiederum nur abstrakte Gedankenschatten. So geht die Wirklichkeit außen und innen allmählich verloren.

Immanuel Kant hat in dem Stehenbleiben der Erkenntnis vor unübersteigbaren Grenzen gerade ein wesentliche Element der naturwissenschaftlichen Forschung gesehen:

Naturwissenschaft wird uns niemals das Innere der Dinge, d.i. dasjenige, was nicht Erscheinung ist, aber doch zum obersten Erklärungsgrunde der Erscheinungen dienen kann, entdecken; aber sie braucht dieses auch nicht zu ihren physischen Erklärungen; ja, wenn ihr auch dergleichen anderweitig angeboten würde (z.B. Einfluß immaterieller Wesen), so soll sie es doch ausschlagen und gar nicht in den Fortgang ihrer Erklärungen bringen, sondern diese jederzeit nur auf das gründen, was als Gegenstand der Sinne zu Erfahrung gehören, und mit unsern wirklichen Wahrnehmungen nach Erfahrungsgesetzen in Zusammenhang gebracht werden kann.

Auch Goethe wird häufig in diesem Sinne zitiert:

»Ins Innre der Natur dringt kein erschaffner Geist.«

Das ist aber nur ein Beispiel dafür, wie "trefflich" sich mit Worten streiten läßt, wenn man sie nur aus ihrem Zusammenhang reißt. Denn tatsächlich sagt Goethe in dem Gedicht, dem dieser Ausspruch entnommen ist, das genaue Gegenteil, und das möchte er gerade dem Naturforscher, dem Physiker ins Stammbuch schreiben:

»Ins Innre der Natur -«
O du Philister! -
»Dringt kein erschaffner Geist.«
Mich und Geschwister
Mögt ihr an solches Wort
Nur nicht erinnern: Wir denken:
Ort für Ort sind wir im Innern.

»Glückselig, wem sie nur
Die äußre Schale weist!«
Das hör ich sechzig Jahre wiederholen,
Ich fluche drauf, aber verstohlen;

Sage mir tausend tausend Male:
Alles gibt sie reichlich und gern;
Natur hat weder Kern Noch Schale,
Alles ist sie mit einem Male.
Dich prüfe du nur allermeist,
Ob du Kern oder Schale seist.

Das ist es auch, was Faust erstrebt. Darum hat er sich von der Gelehrtenweisheit abgewendet, es befriedigt ihn nicht mehr "zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht, und wie wir's dann zuletzt so herrlich weit gebracht." Die Bücherweisheit kann ihm nichts mehr geben, und so hat er sich der Magie zugewendet:

Daß ich nicht mehr mit sauerm Schweiß
Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;
Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau' alle Wirkenskraft und Samen,
Und tu' nicht mehr in Worten kramen.

Faust lehnt sich gegen den Wirklichkeitsverlust auf, er verlangt nach spiritueller Erhebung. Ein Verlangen, das heute bei sehr vielen Menschen latent vorhanden ist. Die "Esoterik-Branche" lebt gut davon, egal ob New Age, Yoga, Feng-Shui, Geomantie, Rutengehen usw. Nur – wenn man mit unentwickelten, ungeläuterten Seelenkräften möglichst rasch eine geistige Vertiefung erzwingen will, kann man nur scheitern, wie Faust von der Erscheinung des Erdgeistes niedergeschmettert wird: "Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!" Und das ist eben doch nur der Geist des "trocknen Schleichers", der Wagner’sche Geist, und Wagner tritt ja auch tatsächlich gleich nach der Erdgeistszene auf mit den Worten: "Verzeiht! Ich hör‘ Euch deklamieren ..." Über das bloße Deklamieren kommt Faust zu diesem Zeitpunkt nicht hinaus; was er sich von der geistigen Welt ausmalt, ist nur ein "Schauspiel! Aber ach! Ein Schauspiel nur!" Und man muß sich schon auch als Anthroposoph immer wieder fragen, wie weit man nur anthroposophische "Lehrsätze" deklamiert, und wie weit man wirklich sein Seelenleben erkraftet hat. Denn darauf kommt es alleine an. Man kann viel abstraktes Wissen über Anthroposophie angehäuft haben, kann gelehrt von Ätherleib, Astralleib, von geistigen Hierarchien usw. sprechen, und doch keinen einzigen Schritt weiter gekommen sein.

Der abstrakte Verstand hat uns also nach innen und nach außen zu der Wirklichkeit entfremdet. Und dennoch mußte er im Zuge der menschheitlichen Entwicklung entstehen. Der Mensch könnte sonst niemals zur Freiheit finden. Nur weil in seinem Denken, in seinem Vorstellen die Wirklichkeit zum kraftlosen Schatten verblaßt, kann der Mensch der ehernen Notwendigkeit entfliehen. Wirklichkeiten können den Menschen zwingen, die substanzlosen Gedankenschatten nicht. Der Mensch entrinnt dadurch in seinem Vorstellen, sowohl der Naturnotwendigkeit als auch der geistigen Führung. Er entfremdet sich der Götterwelt genauso wie der Naturwelt und ist ganz auf sich allein gestellt. Nur, wenn tatsächlich die ganze Wirklichkeit verblaßt, dann wird zunächst auch das eigene Selbst zum bloßen Bild – das wurde ja schon aus dem Zitat von Fichte sehr deutlich. Der Mensch ist damit auf einem Nullpunkt angelangt. Wahre Selbsterkenntnis muß der nächste Schritt sein. Wahre Selbsterkenntnis suchte auch Goethe, und er läßt sie auch seinen Faust suchen. Und diese wahre Selbsterkenntnis ist viel mehr als irgend eine abstrakte Erkenntnis, sie ist zugleich untrennbar Selbstverwirklichung - Selbstverwirklichung in einem gesunden Sinne, nicht so, wie man das heute meisten meint, nämlich als ungehemmtes Ausleben der persönlichen Eigenheiten.

 

Selbsterkenntnis und Welterkenntnis

Zu wahrer Selbsterkenntnis kommt man nur, wenn man spüren lernt, wie das eigene Wesen im Weltganzen verankert ist. Wer seine eigenen Wurzeln nicht im ganzen Kosmos zu finden vermag, kommt niemals zu wirklicher Selbsterkenntnis. Man darf nicht bei der rationalistischen cartesischen Spaltung der Welt in eine res extensa und eine res cogitans, in Subjekt und Objekt, stehenbleiben. Man muß sich selbst gleichsam aus der ganzen Welt heraus aufbauen. Selbsterkenntnis ist nicht möglich ohne Welterkenntnis – und umgekehrt. Rudolf Steiner hat das z.B. so ausgesprochen:

Im Weltgeheimnis schaut sich der Mensch.

Im Menschengeheimnis offenbart sich die Welt.

Der Mikrokosmos Mensch muß sich als individuelles Abbild, als spezifische Essenz des Makrokosmos begreifen lernen. Dieser Erkenntnisansatz fehlt uns heute überall, besonders in der Naturwissenschaft, wo man den ganzen Kosmos aus submikroskopischen atomaren Kräften rational erklären will, während der Mensch im Grunde aus dem ganzen Weltbild völlig herausfällt.

Das hat Goethe sehr deutlich gefühlt, und das ist auch der eigentliche Inhalt der Fausttragödie. Goethe spricht es deutlich aus, wenn er sagt:

Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur
Außenwelt, so heiß ich’s Wahrheit. Und so kann
Jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist
Doch immer dieselbige.

Das hat auch Schiller so an Goethe geschätzt. Er charakterisiert Goethes Anschauung sehr genau in einem Brief vom 23. August 1794:

"Lange schon habe ich, obgleich aus ziemlicher Ferne, dem Gang Ihres Geistes zugesehen und den Weg, den Sie Sich vorgezeichnet haben, mit immer erneuerter Bewunderung bemerkt. Sie suchen das Notwendige der Natur, aber Sie suchen es auf dem schweresten Wege, vor welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen, in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf. Von der einfachen Organisation steigen Sie, Schritt vor Schritt, zu den mehr verwickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen. Dadurch, daß Sie ihn der Natur gleichsam nacherschaffen, suchen Sie in seine verborgene Technik einzudringen. Eine große und wahrhaft heldenmäßige Idee, die zur Genüge zeigt, wie sehr Ihr Geist das reiche Ganze seiner Vorstellungen in einer schönen Einheit zusammenhält. Sie können niemals gehofft haben, daß Ihr Leben zu einem solchen Ziele zureichen werde, aber einen solchen Weg auch nur einzuschlagen ist mehr wert als jeden andern zu endigen - und Sie haben gewählt, wie Achill in der Ilias zwischen Phythia und der Unsterblichkeit. Wären Sie als ein Grieche, ja nur als ein Italiener geboren worden, und hätte schon von der Wiege an eine auserlesene Natur und eine idealisierende Kunst Sie umgeben, so wäre Ihr Weg unendlich

verkürzt, vielleicht ganz überflüssig gemacht worden. Schon in die erste Anschauung der Dinge hätten Sie dann die Form des Notwendigen aufgenommen, und mit Ihren ersten Erfahrungen hätte sich der große Stil in Ihnen entwickelt. Nun, da Sie ein Deutscher geboren sind, da Ihr griechischer Geist in diese nordische Schöpfung geworfen wurde, so blieb Ihnen keine andere Wahl, als entweder selbst zum nordischen Künstler zu werden, oder Ihrer Imagination das, was ihr die Wirklichkeit vorenthielt, durch Nachhülfe der Denkkraft zu ersetzen und so gleichsam von innen heraus und auf einem rationalen Wege ein Griechenland zu gebären."

Der zweite Teil des "Faust" führt uns dann auch in jenes Griechenland, das Goethe aus seiner Seele gebiert. Wahre Menschenkenntnis kann nur aus einer umfassenden Welterkenntnis resultieren, dessen war sich Goethe ganz klar bewußt. Man kann sich selbst nicht erkennen, wenn man sich nicht aus dem ganzen Umkreis der Welt heraus erfassen lernt. Bloßes Hineinbrüten in das eigene Innere führt zu keiner Selbsterkenntnis. Sich nur grüblerisch in sich selbst zu versenken, war Goethe zutiefst verhaßt. Und unter Welt verstand Goethe dabei mehr als die Welt die wir heute um uns sehen und die wir durch die Brille unserer zeitgenössischen Vorstellungen betrachten. Denn Goethe war sich ganz klar darüber, wie sehr das eigene Urteilsvermögen durch die Epoche in der man und durch den Ort an dem lebt einseitig geprägt ist, und er wußte auch, wie schwer es ist, diese Beschränkung zu überwinden. Das läßt er auch seinen Faust deutlich aussprechen:

WAGNER. Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen,
Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen;
Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
Und wie wir's dann zuletzt so herrlich weit
gebracht.

FAUST. O ja, bis an die Sterne weit!
Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit
Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.

Goethe mußte sich von den engen Fesseln seiner nordischen Heimat lösen. Er spürte ganz intensiv, daß er hier nicht jene Vertiefung des Seelenlebens erfahren konnte, die ihn zu wirklicher Welterkenntnis, zu einer Erkenntnis der tieferen Naturkräfte, die letztlich auch den Menschen aufbauen, führen würden. Daher trat er ja auch seine italienische Reise an, und hier in Italien gelang ihm auch der entscheidende Durchbruch in seiner Naturanschauung. Hier reifte seine Metamorphosenlehre aus. Wollte er Faust zu einer ähnlichen Vertiefung des Seelenlebens führen, so mußte er ihn in die griechische Welt eintreten lassen.

Das moderne Seelenleben im Zwiespalt zwischen Intellekt und Triebhaftigkeit

Der blasse Intellekt berührt nur die Oberfläche des menschlichen Seelenlebens und reicht nicht an seine wahren Tiefen und Untiefen heran. Wirkliche Selbsterkenntnis läßt sich so, wie wir gesehen haben, nicht erreichen. Auf dem Grunde der Seele, auch des braven, biederen Philisters, bei ihm vielleicht sogar ganz besonders, walten unverwandelte, ungezähmte Kräfte, denen er sich stellen muß, wenn er sich selbst erkennen und verwandeln will. Wir sind eben nicht nur jener wohlerzogene selbstbeherrschte rational denkende Mensch, als den wir uns heute so gerne selbst sehen, sondern auf dem Grund unseres Wesen brodeln unverwandelte tierische Triebkräfte. Wir tragen die Bestie in uns, auch wenn sie uns der Intellekt zeitweilig verbirgt. Auch wenn wir sie nicht erkennen wollen, wenn wir uns scheuen ihr zu begegnen, sie wirkt dennoch in uns. Doch nur wenn wir ihr ins Auge schauen, können wir mit ihr fertig werden.

Die Verjüngung in der Hexenküche weckt in Faust die sinnliche Begierde, die schließlich zur Gretchentragödie führt. Er will nachholen, was er in seiner Jugend, während seiner Studienzeit versäumt hat. Suchen das nicht heute viele Menschen, wenn sie instinktiv spüren, wie der Intellekt langsam ihr Seelenleben ersterben läßt, suchen sie nicht nach irgend einer Neubelebung. Und sind nicht solche Verjüngungstränkelchen heute sehr beliebt, seien es nun Hormonkuren oder Frischzellentherapie oder was auch immer. Die Sehnsucht nach ewiger Jugend und der damit verbunden Lebensintensität ist sehr verbreitet. Man sucht nach einem besonderen "Kick" in Extremsituationen. Wieviele streben heute nicht nach dem, was auch Faust sucht:

Laß in den Tiefen der Sinnlichkeit
Uns glühende Leidenschaften stillen!
In undurchdrungnen Zauberhüllen
Sei jedes Wunder gleich bereit!
Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit,
Ins Rollen der Begebenheit!
Da mag denn Schmerz und Genuß,
Gelingen und Verdruß
Mit einander wechseln, wie es kann;
Nur rastlos betätigt sich der Mann.

Eine Entfesselung schlummernder Triebkräfte findet statt, aber auch ein erster Ausblick eröffnet sich Faust auf das Ewige in der Seele: Helena erscheint im Zauberspiegel.

Auf der anderen Seite bleibt das moderne Leben durch die ungeheure Machtentfaltung des abstrakten, technokratischen und plutokratischen Intellekts bestimmt. Goethe gibt dafür im zweiten Teil seines Faust einige Beispiele. Man denke nur an die Erfindung des Papiergeldes am Kaiserhof, an den Krieg gegen die Feinde des Kaisers im 4. Akt und endlich auch das Mammutvorhaben, durch das Faust dem Meer fruchtbares Land abgewinnen will – und wie viele Philemons und Baucis werden heute nicht weltweit ähnlich gearteten Projekten geopfert? Dabei hat Faust durchaus die besten Absichten, er will etwas großes für die Menschheit verwirklichen. Aber es sind die "Sachzwänge", wie man wohl heute sagen würde, die zu solchen "Betriebsunfällen" führen.

So wird heute einerseits der Egoismus immer mehr gesteigert, indem man die Triebkräfte der Menschen weckt, an ihre Genußsucht, an ihre Eitelkeit usw. appelliert, anderseits wird das Individuum auch immer stärke in abstrakte, unüberschaubare Machtstrukturen eingesponnen, denen es kaum mehr zu entrinnen vermag. Beides zerrt am Ich des Menschen, droht, die freie Individualität zu zerstören. Ego ist nicht Ich, sondern das gerade Gegenteil. Das Ich wird zum Sklaven seiner unverwandelten Triebkräfte. Ein Teufelskreis entsteht, denn je mehr sich die Triebkräfte ausleben dürfen, desto stärker Mittel sind nach und nach nötig, um überhaupt noch zu einer Befriedigung zu führen:

So tauml' ich von Begierde zu Genuß,
Und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde.

In den technokratischen Machtstrukturen wiederum wird das Ich zum austauschbaren Rädchen in einer völlig unpersönlichen Maschinerie, heute noch in viel stärkerem Maße als das in Goethes Zeit sichtbar war. Beide, der abstrakte Intellekt und die blinde Triebhaftigkeit, drohen heute, das menschliche Ich zu zerreißen.

 

Mephisto - Die Doppelgesichtigkeit des Bösen als Rätselfrage unserer Zeit

Es ist eine Forderung unserer Zeit, die alte Schwarzweißmalerei von Gut und Böse zu überwinden durch eine wesentlich differenziertere Anschauung. Vorallem wird man nicht bei dem bloßen Gegensatzpaar Gut und Böse stehenbleiben können. Das Böse selbst ist von polarer Natur, es tritt uns in zweifacher Gestalt entgegen. Dafür ist heute noch sehr wenig Bewußtsein vorhanden. Man neigt im Gegenteil eher dazu, den Gegensatz von Gut und Böse dadurch aufzulösen, daß man nur mehr das Böse gelten läßt – auch wenn man es dann vielleicht nicht mehr so nennt. Im Sinne der Verhaltensforschung etwa ist der Mensch ein Gefangener seiner naturgesetzlich vererbten Anlagen:

Wir Menschen sind Affen und verhalten uns auch so. Daran vermochten die paar Jahrtausende unserer Zivilisation nicht viel zu ändern. Im Gegenteil, es scheint, daß durch unsere Zivilisation verschiedene der – vielen von uns unangenehmen und ethisch verwerflichen – stammesgeschichtlichen Verhaltensantriebe erst zum Durchbruch gekommen sind. Dabei ist vorallem an aggressive und destruktive Potentiale zu denken, welche heute im Verhalten des Menschen gegenüber seinen eigenen Artgenossen ebenso wie gegenüber der ihn umgebenden Natur besonders deutlich zum Vorschein kommen."

Das menschliche Verhalten reduziert sich dementsprechend auf ein naturnotwendiges Streben nach Lustgewinn und Selbsterhaltung im "Kampf ums Dasein". Der Mensch ist verdammt zur Unmoral, oder besser gesagt zur Amoral – denn der Moralbegriff verliert in diesem Zusammenhang jeden Sinn. Dieses Menschenbild bestimmt heute nicht nur die wissenschaftliche Forschung, sondern auch die Kunst – man untersuche dahingehend nur die Mehrzahl der moderneren Theaterstücke – und mehr und mehr auch das alltägliche Leben.

"Es gibt keine absoluten Normen und Werte, und der Mensch ist von Natur aus egoistisch, er sucht seinen Eigenvorteil, beschwindelt andere, beutet die Natur aus und ist über sein Wesen und seine Handlungen oft so entsetzt, daß er eine Ethik erfindet, die dann entweder seine Handlungen im nachhinein rechtfertigen oder beim nächsten Mal Schlimmeres verhindern soll."

Das zeigt aber nur, daß der abstrakter Forscherverstand überhaupt unfähig ist, zu einem tragfähigen Moralbegriff zu kommen. In abstrakten Regeln und Normen kann Moral nicht gefunden werden, und so zeigt uns der rationale abstrakte Verstand paradoxerweise den Menschen als triebgebundene irrationale Bestie. Hier zeigt sich wieder sehr deutlich die Schizophrenie des modernen Menschen, der zwischen Intellekt und Trieb hin und her gerissen wird. Der Mensch läßt sich nicht einseitig auf den kühlen Intellekt reduzieren – aber auch nicht auf seine bloße Triebhaftigkeit, wie es uns die Verhaltensforschung glauben machen will. Auf keiner dieser einander polar entgegengesetzten Seiten kann man den wirklichen Menschen finden. Auf der einen Seite steht der eiskalt kalkulierende Computer, auf der anderen das entfesselte Tier. Wo bleibt der Mensch?

Schon Aristoteles hat in seiner "Nikomachischen Ethik" darauf hingewiesen, daß das Gute die goldene Mitte zwischen zwei Extremen darstellt:

Für Furchtsamkeit und Kühnheit bildet die Mannhaftigkeit die rechte Mitte. Was hier die Überschreitung des Maßes anbetrifft, so gibt es für den, der an Furcht zuwenig hegt, wie in vielen anderen Fällen sonst, keinen besonderen Ausdruck; dagegen wer kühn ist im Übermaß heißt verwegen, und wer an Furcht zuviel, an Kühnheit zuwenig hat, der heißt feige.

Wo es sich um Genuß und Schmerz handelt, freilich nicht um jede Art davon, und insbesondere nicht um jede Art von Schmerz, da bildet die rechte Mitte die Besonnenheit, und das Überschreiten des Maßes heißt Ausgelassenheit. Solche, die in der Genußsucht hinter dem Maß zurückbleiben, werden nicht eben häufig gefunden. Man hat deshalb auch für sie keinen Ausdruck geprägt; vielleicht darf man sie unempfänglich, stumpf nennen.

Geiz ist ebenso verderblich wie Verschwendungssucht; vernünftige Sparsamkeit stellt die rechte Mitte dar. Gesunde Ordnungsliebe ist der Schlampigkeit vorzuziehen, aber sie darf nicht in Pedanterie ausarten. Krankhafter Ehrgeiz ist genauso schädlich wie Faulheit, aber eine rechte Strebsamkeit ist dem Menschen vonnöten ("Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen").

Entscheiden dabei ist, daß sich diese "goldene Mitte" nicht durch abstrakte Regeln, durch Normen und sittliche Verordnungen fassen läßt, sondern daß sie vom einzelnen individuellen Menschen in jeder Situation aus freiem Entschluß errungen werden muß:

Somit ist denn sittliche Willensbeschaffenheit die zur Fertigkeit der Selbstentscheidung gewordene Gesinnung, die jedesmal für das Subjekt angemessene Mitte innezuhalten, wie sie gedankenmäßig bestimmt ist und wie der Mann von vollkommener Einsicht sie bestimmen würde.

Und so läßt auch Goethe seinen Faust kurz vor dessen Tod sagen:

Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.

Hier zeigt sich nochmals die Bedeutung des Denkens für die menschliche Freiheit. Nur im Denken kann ich zu einer klaren Einsicht in mein Verhalten kommen. Und weil dieses Denken zugleich bloßes Bild, abstraktes Gedankenbild und keine Wirklichkeit ist, kann es mich nicht zu irgend etwas zwingen. Es befreit mich von allen unterbewußten Zwängen, die mein Wesen ergreifen und selbstständig in eine bestimmte Richtung lenken. Es befreit mich von der göttlichen Führung genauso wie von dem blinden Gehorsam gegenüber hergebrachten, von oben her verordneten Normen. Käme nichts weiteres dazu, würde es uns damit aber zugleich zur Tatenlosigkeit verurteilen. Wir wären bloße Betrachter der Welt, aber nicht mehr Handelnde, wie es Shakespeare so anschaulich in seinem berühmten Hamlet-Monolog (3. Akt/1. Szene) zeigt:

So macht Gewissen (=Bewußtsein) Feige aus uns allen;
Der angebornen Farbe der Entschließung
Wird des Gedankens Blässe angekränkelt:
Und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck
Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt,
Verlieren so der Handlung Namen.

Das Denken befreit uns vom Druck der Wirklichkeit, es führt uns an einen Nullpunkt. Von selbst, d.h. zwanghaft, geschieht nun überhaupt nichts mehr. Es führt uns an ein Nichts, an ein Nichts, an das nicht einmal mehr der Teufel herankommt. Aber "in deinem Nichts hoff ich das All zu finden." Hier ist Quellort, wo der Mensch seine eigene geistige Tatkraft finden kann. Moral erfordert Taten. Zu wissen, was getan werden sollte, ist zu wenig, es muß auch getan oder zumindest versucht werden. Wille muß aufgebracht werden, Wille, der nun unmittelbar aus unserem geistigen Kern, aus unserem Ich kommt, der nicht mehr durch unsere natürlichen Triebe, aber auch durch keine göttliche Führung beeinflußt wird. Oder anders gesagt: nur durch die moralische Tat – und in diesem Sinn hat jede Tat eine moralische Qualität – baut die geistige Kraft unseres Ich aus, so daß man geradezu sagen kann, daß unser Ich die Summe unserer freien moralischen Taten darstellt. Indem der Mensch aus freiem Entschluß seine Taten setzt, baut er an seinem Ich, wie umgekehrt jede unfreie Handlung, selbst wenn er dabei vorgegebenen sittlichen Normen folgt (!), seine Ichkraft schwächt. "Wie ich beharre, bin ich Knecht", sagt Faust, "nur rastlos betätigt sich der Mann." Das hat mit ruheloser äußerer Geschäftigkeit nicht das geringste zu tun, sondern mit der unermüdlichen Willenskraft, die den Geist kennzeichnet. Der Geist ist niemals, er hat kein fertiges Sein, er wird beständig, ist nur im ewigen schöpferischen geistigen Tun zu erfahren. Und so ist der Mensch, der seinen freien Willen anspannt, in jedem Fall der moralischere, der geistigere Mensch, als der, der sich passiv treiben läßt – selbst wenn er dann und wann mit seinem Tun scheitert und dadurch schuldig wird.

Durch die freie Tat stellt sich der Mensch wieder in die Wirklichkeit hinein, aus der er durch das abstrakte Denken herausgefallen ist. Und diese Wirklichkeit bekommt er auch sogleich bewußt zu spüren. Reale Widerstände setzen sich seinem Willen entgegen und versuchen ihn nach der einen oder anderen Seite von seinem Weg abzubringen. Man hat es dann nicht mehr mit abstrakt erfaßten "Untugenden" zu tun, sondern mit wesenhaften Kräften, die sich dem eigenen Willen entgegensetzen. Und diese Kräfte sind oft viel stärker und viel raffinierter als es das Individuum mit seinem noch sehr schwach entwickelten Ich sein kann. Er wird ihnen oft unterliegen, wird schuldig werden, indem er ihnen folgt und nicht sich selbst. Aber er wird zugleich in der Auseinandersetzung mit ihnen immer mehr reifen. Man muß der Tatsache ins Auge sehen, daß der Mensch schuldig werden muß, wenn er seinen Weg zur freien Individualität finden will. Das unterscheidet den Menschen grundlegend vom Tier, daß dieses niemals schuldig werden kann. Es folgt seiner Natur, seinen Trieben und Instinkten mit unbedingter Notwendigkeit, es kann keinen eigenen Weg gehen. Der Mensch kann seinen eigenen Weg finden, aber kann und wird auch immer wieder davon abirren. Das ist der Preis, den wir für unsere Freiheit, für unsere geistige Entwicklung zahlen müssen. Goethe hat das sehr deutlich gespürt, und so ist auch sein Faust durchaus nicht der strahlende makellose Held, der niemals vom Pfad der Tugend abweicht. Er ist kein Heiliger, der von allem Anfang über jede Versuchung erhaben ist, denn dann wäre er kein realer Mensch mehr, sondern ein reines Engelwesen. Das ist er nicht; er strauchelt oft und lädt schwere Schuld auf sich – und doch kommt er geistig weiter, weil er "ewig strebend sich bemüht".

In diesem seinem Streben stößt er notwendig auf jene wesenhaften Gestalten, die sich seinem Willen entgegenstellen, die ihm aber auch dienstbare Geister werden können. Er muß den Pakt mit Mephistopheles, dem "Vater aller Hindernisse", eingehen. Dieser Mephistopheles ist nun tatsächlich eine merkwürdig zwiespältige Gestalt. Wenn er etwa zu Beginn der Fausttragödie, im "Prolog im Himmel", zum Herrn sagt:

Da dank' ich Euch; denn mit den Toten
Hab' ich mich niemals gern befangen.
Am meisten lieb' ich mir die vollen, frischen
Wangen.
Für einen Leichnam bin ich nicht zu Haus
Mir geht es wie der Katze mit der Maus.

so stürzt er sich am Ende des zweiten Teils doch recht begierig auf den Leichnam. Er zeigt sich einmal als durchaus charmanter Verführer, ein anderes Mal als eiskalt berechnender Technokrat, der über Leichen geht. Eigentlich sind es zwei ganz und gar verschiedene Gestalten, die als Widersacher – und zugleich als nützliche Diener – Fausts Weg begleiten, wie sie eigentlich das Leben jedes begleiten, ob er sich nun dessen bewußt ist oder nicht. Gegenwärtig, das haben wir ja gesehen, zeigt sich das sehr deutlich in dem zwischen abstrakten Intellekt und blinder Triebhaftigkeit zerrissenen Wesen des modernen Menschen.

Wenn Aristoteles von der goldenen Mitte spricht, dann meint er eigentlich das menschliche Ich, das sich gegenüber diesen an ihm nach entgegengesetzten Richtungen zerrenden Geistgestalten bewahren muß. Goethe ist diese Doppelgestaltigkeit des Bösen nie ganz klar geworden, und so ist sein Mephisto eine manchmal etwas unorganische Mischung dieser beiden deutlich zu differenzierenden Widersachermächte geworden. Die Bibel kennt sie sehr wohl unter den Namen Diabolus und Satanas, die durchaus nicht miteinander verwechselt werden dürfen. Rudolf Steiner hat ersteren Luzifer und den zweiten, in Anlehnung an die persische Mythologie, Ahriman genannt.

Luzifer ist der geborene Verführer, der den Menschen zur Leichtlebigkeit verleitet, seiner Eitelkeit und seinem Selbstgefühl schmeichelt und stets ein bißchen von der Realität abhebt. In allem Luziferischen ist diese weltflüchtige Element zu bemerken. Er ist von strahlender lichter Schönheit und wird damit seinem Namen, Lichtträger, gerecht. Wenn Mephisto im ersten Teil des Faust mit seinem roten, goldverbrämten Gewand, dem Mäntelchen von starrer Seide und mit der Hahnenfeder auf dem Hut auftritt, dann erscheint er durchaus als edler Junker. Mephisto zeigt sein luziferisches Antlitz und erscheint dann als durchaus sympathisches, charmantes Wesen. Er ist alles andere als ein finsterer Bösewicht.

Alle Kunst wäre ohne Luzifer nicht denkbar. Er überhöht den rohen Stoff zum schönen Schein. Er ist eben durchaus nicht nur eine uns feindlich gesinnte Macht, sondern ein notwendiger Begleiter auf den Wegen der Menschheit. Das Licht der Kultur ist zuallererst ein luziferisches. Die ganze altorientalische Kultur hat ihren Glanz Luzifer zu verdanken. Die griechische Kunst mit ihrem Streben nach idealer Schönheit kann ihren luziferischen Ursprung nicht verleugnen – und das tut ihrer Größe durchaus keinen Abbruch. Luzifer kann in uns das Feuer der Begeisterung erwecken, unser idealistisches Streben anspornen, er belebt unsere Phantasie und Lebensfreude.

Wenn Luzifers Kräfte am rechten Ort zur Entfaltung kommen, wenn er sich zum willigen Diener des Menschen macht und sich nicht umgekehrt dieser durch ihn beherrschen läßt, ist er eine willkommene positive Macht. Aber er kann uns nicht nur zur Schönheit, zur Phantasie, zur idealen Kunst führen, er taucht uns auch, wenn wir nicht aufpassen in alle nur denkbaren Illusionen. Er umnebelt unseren klaren Verstand, facht die blinden Leidenschaften in uns an und stürzt uns in Rausch und Ekstase. Alle Süchte sind ihm zu verdanken – und wovon kann man nicht süchtig werden? Der Bogen spannt sich vom Zigarettenkonsum bis zu den in der Freßsucht eskalierenden Gaumenfreuden, vom Alkoholismus bis zu den harten Drogen, von ungehemmter Sexualität bis hin zur Internet-Sucht, die nun vermehrt als neuestes Kuriosum menschlichen Verhaltens auftaucht. Wenn Luzifer auch seine hauptsächliche Wirkung in vergangenen, längst abgelebten Zeiten entfaltet hat, so sieht man deutlich, daß er auch heute noch recht munter unter uns wirkt. Nur scheint es so, als hätte man mehr und mehr seine positiven Seiten vergessen und ließe sich vor allem durch seine Verführungskünste blenden. Die romantische Walpurgisnacht im ersten Teil des Faust, wo es von Hexen, Irrlichtern und anderen merkwürdigen Geistern nur so wimmelt, gibt uns ein treffliches imaginatives Bild der Seele, in der die luziferischen Kräfte unser klares Bewußtsein zu trüben versuchen. Doch Faust Bewußtsein ist bereits zu stark geworden, als daß es sich endgültig einlullen ließe. Auch inmitten dieses alptraumartigen Geschehens bleibt er sich seiner selbst und seiner Schuld bewußt. Er erblickt die bleiche Gestalt Gretchens inmitten des um ihn toben Chaos, und Mephisto kann ihn auch durch das schnell inszenierte Spektakel des Walpurgisnachtstraumes nicht mehr blenden.

Ahriman oder Satan ist nun das gerade Gegenteil von Luzifer. Er ist der Geist der Finsternis, der Geist der stets verneint. "Und das mit Recht", wie ihn Goethe sagen läßt, "denn alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht." Er kann, auch wenn er der Zerstörer ist, doch heilsam wirken. Das ewige wuchernde Leben in der Natur könnte sich nicht fruchtbar und in immer neuen und höheren Formen entfalten, wenn nicht auch der Tod reiche Ernte hielte. Wie sagt Goethe an anderer Stelle über die Natur:

Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff viel Leben zu haben.

Ahriman ist der wesenhafte Tod in seinen verschiedensten Facetten, er zwingt das äußere wuchernde Leben ebenso in die Knie, wie unserer inneres, in blühenden Phantasien sich entfaltendes Seelenleben. Er läßt unser Seelenleben vertrocknen bis zum abstrakten Verstand. Er ist der Geist der Nüchternheit schlechthin und läßt die Wirklichkeit zum wesenlosen Schatten verblassen. Ahriman inspiriert das materialistische Denken, das nur mehr den toten Stoff gelten läßt; er ist bestimmend für den Wissenschaftsgeist unserer Zeit, er lügt uns vor, daß die ganze Welt nur eine riesige tote Maschinerie sei. Er ist der geborene Technokrat und wirkt in allen Institutionen, die sich herzlos auf abstrakte Prinzipien gründen, Institutionen, gegenüber denen der einzelne Mensch immer machtloser wird. Das Individuum wird zum austauschbaren Rädchen in der Staatsmaschinerie. Es wird von den "Sachzwängen" überrollt, die persönliche Initiative wird ausgeschaltet. Alles steht unter der Herrschaft eines bloßen Nützlichkeitsdenkens. Als treibende Kraft des modernen Kommerzialismus will er alles zur bloßen Ware machen – und Luzifer ist es dann, der unsere Begier nach diesen Waren anheizt, etwa in Form der Werbung, die uns mit lauter Illusionen verführen will. So wie Luzifer der Geist aller irrationalen Phantastereien, aller berauschenden Utopien und wirklichkeitsentrückter Zukunftshoffnungen ist, so ist Ahriman der Geist der eiskalten Lüge, der bewußten Täuschung. Ahriman läßt die Sprache zur hohlen Phrase werden, macht sie zum bloßen Werkzeug für den äußeren Verkehr, degradiert sie zur geistentleerten "Information". Bildung wird unter seiner Führung nicht mehr zu etwas, was unser Herz ergreift und unser tieferes Wesen berührt, sondern zum sinnentleerten "abrufbaren Wissen". Luzifer hat uns einst das Licht der Kultur gebracht; Ahriman erschafft die moderne, auf reine Zweckmäßigkeit gegründete Zivilisation. Ahriman objektiviert sich geradezu in unserer gegenwärtigen Zivilisation. Längst schon hat er auch die Kunst ergriffen, die eigentlich eine Domäne Luzifers war, und Kunst in Antikunst verwandelt. Schönheit muß der Häßlichkeit weichen, hohe Ideale haben dem Sumpf menschlichere Niederungen Platz gemacht. Ahriman ist das Urbild der Häßlichkeit, und wenn sich Mephisto im zweiten Teil des Faust zur urhäßlichen Phorkyas verwandelt, dann zeigt er sich in seiner wahren ahrimanischen Gestalt.

Luzifer und Ahriman ergreifen nicht nur den Menschen, sie sind auch wirkende Naturkräfte. Aus jede Blüte, die in Schönheit erstrahlt, und ganz besonders, wenn sie dann noch einen betörend süßen Duft verströmt, blickt uns Luzifer entgegen. In allem, was verholzt, was sich verhärtet und versteinert, wirkt Ahriman. Er läßt die fruchtbare Ackererde zur toten Sandwüste ersterben, während in der flimmernden heißen Luft, die darüber aufsteigt, Luzifer lebt und unseren Sinnen blühende Oasen als Fata Morgana vorgaukelt. Beide haben sie auch die Geschlechtertrennung bewirkt, denn wie uns die Genesis lehrt, wurde der Mensch ursprünglich ungeschlechtlich, männlich-weiblich, geschaffen, wenn das auch durch spätere Bibelübersetzungen nicht mehr so klar und unmißverständlich herauskommt. Das verhärtende ahrimanische Prinzip wirkt stärker in der männlichen Gestalt, während das viel lebendiger bildsame weibliche Geschlecht mehr durch luziferische Kräfte bestimmt ist. Interessant, daß Heinrich Heine, der in seinen Dichtungen den luziferischen Einschlag kaum verleugnen kann, in seinem "Tanzpoem" "Der Doktor Faust" Mephisto als weibliche Figur mit Ballettröckchen auftreten läßt; Mephisto wird hier zur Mephistophela. Und wenn sich Mephisto zur häßlichen Phorkyas verwandelt, wird er gar zum geschlechtslosen Neotrum: "Man schilt mich nun, o Schmach, Hermaphroditen."

In jedem Wesen wirken Männliches und Weibliches, Luziferisches und Ahrimanisches zusammen. Jeder Mann hat auch seine weibliche Seite, wie auch umgekehrt jede Frau männliche Elemente in sich trägt, nur sind die Akzente jeweils unterschiedlich gesetzt. Wenn im Tierreich etwa häufig die Männchen prachtvoller, farbenprächtiger als die Weibchen erscheinen, dann ist das eine Gabe Luzifers. Je höher entwickelt uns ein Tier erscheint, je unverrückbarer es sich in einer komplizierten scharf umrissenen Gestalt verhärtet, desto stärker wirkt Ahriman in ihm. Und doch sind anderseits alle Tiere im Grunde verkörperte sinnliche Begierden, also sichtbar gewordene luziferische Kräfte. Könnten sie sich frei ausleben, würde sich die Tiergestalt beständig verwandeln. In dem Ahriman sie in der festen Form erstarren läßt, treibt er die luziferischen Kräfte nun mehr und mehr ins Seelische hinein und dieser heizt die Triebkräfte immer mehr an. Eine einfache Meeresqualle mit ihrem fast durchsichtigen, beweglich wäßrigen Leib zeigt noch wenig ahrimanischen Einfluß. Das Luziferische kann sich in ihrer weichen formbaren Gestalt ausleben und wird noch kaum ins Seelische zurückgedrängt, ihr Triebleben ist noch kaum erwacht. Wie anders stellt sich etwa ein Wolf dar, dessen feste Gestalt sich mit einer ungeheuren Gier erfüllt, die er mit seiner arttypischen raffinierten Intelligenz befriedigt. Würde sich im Menschen einfach die tierische Entwicklung geradlinig fortsetzen, dann würde er zur äußerlich verknöcherten, klauenbewehrten Bestie, die ihre ungeheure, aber völlig unpersönliche Intelligenz nur dazu aufwendet, um ihre unersättlichen Begierden zu stillen. Dann würde das Menschenbild wahr, das uns die Verhaltensforscher zeigen. So weit ist es aber denn doch noch nicht, obwohl die Gefahr besteht, daß die Entwicklung in diese Richtung geht. Alles hängt davon ab, ob sich das menschliche Ich ihr entgegen zu setzten vermag. Denn der Mensch setzt nicht die tierische Entwicklung fort, sondern er muß ihr entgegenarbeiten.

Was ist also das eigentlich Böse in unserer Zeit? Das eigentliche Böse ist nicht, daß wir den Pakt mit Luzifer und Ahriman eingehen, daß wir mit ihren Kräften rechnen und sie für unsere Zwecke einspannen. Das eigentlich Böse entsteht, wenn wir unser Ich verleugnen, wenn wir die Entwicklung einfach laufen lassen und ihr nicht unermüdlich aktiv die Richtung zum Geistigen hin geben. Ahriman und Luzifer, der doppelgesichtige Mephistopheles, sind keine Gestalten, denen wir entfliehen können. Wir müssen es aber auch nicht. Wenn wir sie in jeder Minute unseres Lebens im lebendigen Gleichgewicht halten, wenn unser waches Ich das Zünglein an der Waage zwischen diesen beiden Extremen sein kann und wir dadurch die luziferischen und ahrimanischen Kräfte in rechter Weise wirken lassen, dann kann sich der höhere Mensch in uns entwickeln.

 

Der höhere Mensch in uns

Durch die Gretchentragödie hat Faust schwere Schuld auf sich geladen. Mephisto scheint sich seiner Seele gewiß sein zu können. "Her zu mir!" ruft ihm Mephisto am Ende des ersten Teiles zu, während Gretchens Rufe verhallen und der Vorhang fällt. Konsequenterweise müßte nun wie in der überlieferten Faustlegende Fausts Höllenfahrt beginnen. Goethe stellt es ganz anders dar. Überraschenderweise finden wir Faust zu Beginn des zweiten Teiles in einer anmutigen Gegend wieder, gebettet auf Blumen, umschwebt vom Luftgeist Ariel und seinen dienenden Elfen, die Faust im Tau von Lethes Flut baden und ihm sanft die Erinnerung an seine schrecklichen Verfehlungen nehmen. In seinem Gedicht "Deutscher Parnaß" spricht es Goethe ganz ähnlich aus:

 

Wenn sich der Verirrte findet,
Freuen alle Götter sich.
Schneller noch als Lethes Fluten
Um der Toten stilles Haus,
Löscht der Liebe Kelch den Guten
Jedes Fehls Erinnrung aus.
Alles eilet euch entgegen,
Und ihr kommt verklärt heran,
Und man fleht um euern Segen;
Ihr gehört uns doppelt an!

Soll Faust so einfach davon kommen? Muß das nicht unseren Gerechtigkeitssinn empören? Was will uns Goethe damit sagen?

Goethe war sich sehr wohl bewußt, daß der Mensch nicht als Heiliger geboren wird. Er selbst war es nicht, und auch sein Faust ist es nicht. Der Erdenweg des Menschen führt durch die Schuld, die ihren Ausgleich fordert, wenn nicht in diesem Leben, dann in einem anderen. Und doch wohnt ein höherer Mensch in uns, oder schwebt über uns, der niemals schuldig werden kann. Er ist gleichsam das Idealbild unseres eigenen Wesens, unser höheres Selbst, als tätige geistige Realität. Das niedere Selbst des Faust hat Gretchen verführt, ist in die Fänge Mephistos geraten und schuldig geworden. Unser höheres Selbst kann niemals den ahrimanischen und luziferischen Mächten verfallen, es bleibt in ungebrochener Beziehung zu den geistigen Mächten der Welt. Der Faust, dem wir zu Beginn des zweiten Teiles begegnen, ist nicht der selbe Faust, der am Ende der Gretchentragödie Mephisto verfallen ist. Es ist der andere, der höhere Faust, den uns Goethe hier zeigt. Gerade die ungeheure seelische Erschütterung angesichts seiner schweren Verfehlungen hat dieses höhere Selbst herbeigerufen. Als reiner Geist vermag er die äußere Welt als das zu durchschauen, was sie ist: Abglanz des Geistigen: "Am farbigen Abglanz haben wir das Leben." Schuld wird in höhere Erkenntnis verwandelt.

Das wäre ganz falsch, wollte man sagen, daß nur der nach Höherem streben darf, der niemals schuldig geworden ist. Wer dürfte es dann überhaupt wagen? Alle Heiligen sind durch die Schuld hindurchgegangen – man lese nur etwa die "Bekenntnisse" des Augustinus. Oh, das wäre sehr bequem, wenn man sich sagte: "Nun bin ich also schuldig geworden, jetzt muß ich – Gott sei es gedankt – nicht mehr nach Höherem streben." Es ist die selbe Bequemlichkeit, die alles Erhabene in den Staub ziehen möchte, die auch auf die größten Menschengeister mit spitzen Fingern weist: "Seht nur, welch häßliche Flecken. Seht nur endlich ein, daß es nichts Edles im Menschen geben kann!" So ist es nicht. Noch hat der Mensch nicht sein höchstes Ideal erreicht, noch lange nicht, aber er ist auch noch nicht für immer der gierigen Bestie verfallen. In der Mitte zwischen beiden steht er, und an ihm liegt es, welchen Weg er nehmen will. Der Weg nach abwärts ist bequem, wer sich nicht geistig entwickelt, wer stehen bleibt, der wird ganz von selbst auf seine Bahn gelenkt – doch "wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen." Wenige Tage vor seinem Tod, am 17. März 1832, schrieb Goethe an Wilhelm von Humboldt:

Die Tiere werden durch ihre Organe belehrt, sagten die Alten; ich setze hinzu: die Menschen gleichfalls, sie haben jedoch den Vorzug, ihre Organe dagegen wieder zu belehren.

Wäre nur ersteres wahr, bliebe uns nur die traurige Perspektive, die uns die vergleichende Verhaltensforschung weist; weil der höhere Mensch in uns wirken kann, ist der geistige Aufstieg möglich.

Wir können uns nur zu diesem höheren Menschen erheben, wenn wir unsere Seele entsprechend vorbereiten. Der naturgegebene, von kollektiven Instinkten gleitete Triebleib muß zur individuellen Seele verwandelt werden, die sich dem reinen Geist zu öffnen vermag. Goethe führt sie uns in Gestalt der Helena vor Augen. Mit ihr muß sich Faust vereinigen, wenn er zu seinem höheren Ich aufsteigen will.

Stufenweise wird Fausts Vereinigung mit Helena vorbereitet. Ganz ferne und wie nebelhaft verschwommen sieht er sie im Zauberspiegel in der Hexenküche, ehe er den Verjüngungstrank erhält, der seine sinnlichen Begierden anstachelt. Die ganze Szenerie wird zu einem großartigen Bild von Fausts momentanem Seelenzustand. Vorne die Hexe, mit anzüglichen, lüsternen Bemerkungen Mephisto umschwärmend, daneben ihre tierischen Gehilfen, der Meerkater und die Meerkatze, die den brodelnden feuersprühenden Hexenkessel umtanzen, und Mephisto, der souverän das ganze Geschehen leitet, während Faust in den Zauberkreis dieser niederen Kräfte gebannt ist. Und ganz vage schwebt im Hintergrund das zarte Bild der höheren Seele, der sich Faust zuwenden muß, wenn er sein hohes Ziel erreichen will. Doch Mephisto gelingt es zunächst ganz leicht, alles ins Gegenteil zu verkehren. Geistiges Streben wird zur glühenden Leidenschaft pervertiert:

Du siehst, mit diesem Trank im Leibe,
Bald Helenen in jedem Weibe.

Faust kommt nicht nur zu einer bildhaften Erkenntnis seiner unverwandelten Triebkräfte, er wird an sie gefesselt, muß sich – durch den Zaubertrank – real mit ihnen vereinigen, sich ihnen ganz ausliefern. Das war nämlich bis jetzt noch gar nicht der Fall. Wohl schlummerten diese Kräfte auf dem Grund seines Wesen, aber Fausts Ich blieb noch unberührt von ihnen, es schwebte gleichsam über ihnen. Jetzt erst wird es von ihnen ergriffen. So wie wir uns mit unserem höheren Ich nicht von allem Anfang an eins fühlen dürfen, so ist wird unser Ich nicht sogleich von dem Tier in uns aufgefressen. Aber wir müssen uns mit ihm vereinigen, wenn wir es verwandeln und zu etwas Höherem werden lassen wollen. Das unterscheidet den geistig strebenden Menschen zuallererst vom trägen Philister, daß letzterer zu feige ist, die schlafende Bestie in sich zu wecken und sich mit ihr einzulassen. Freilich ist die Gefahr groß, denn sie erscheint schrecklich und übermächtig und tatsächlich scheint ihr Faust zunächst vollkommen zu verfallen. Alle geistige Entwicklung ist mit Gefahren verbunden, sie ist kein leicht zu bestehendes Abenteuer und das Ziel ist nicht billig zu erreichen. Aber da ist eben noch das höheres Ich, das den Menschen, so wie ihn die Bestie hinabreißen kann, aus dem Sumpf wieder herausziehen kann. Dem "braven" Philister fehlt dieses ehrliche Geistvertrauen, er vermeidet den notwendigen Kampf mit der Hölle in sich, weil er sich seines höheren Seins nicht sicher ist. Das in unserer modernen materialistischen Weltanschauung ein solches ehrliches Gottvertrauen nur schwer zu erringen ist, kann kaum verwundern. Nur, ob wir es wollen oder nicht, eines Tages wird das Tier sich zu regen beginnen, und wenn dann unsere geistigen Kräfte nicht gestärkt sind, werden wir von ihm ergriffen. Faust riskiert nur durch bewußten Entschluß, was später einmal notwendig von selbst geschehen müßte. Goethe selbst mußte diesen Kampf bestehen, und seine vielen Liebschaften sind Legende. Aber ehe wir tadeln, sollten wir doch sehen, was er letztendlich daraus gemacht hat, welche geistige Größe er seiner niederen Natur abgerungen hat. Wir müssen Goethe oder Faust dort nicht folgen, wo sie Fehler gemacht haben. Wenn wir uns auch mit der Bestie in uns vermählen müssen, so müssen doch daraus nicht notwendig solche äußeren Taten folgen, wie sie in der Gretchentragödie passieren. Das kann zwar geschehen, und dann ist es ein schreckliches Unglück, aber worum es vor allem geht, das ist der innere seelische Kampf mit unserer niederen Natur, der, indem wir uns mit ihr vereinigen, zu einem erbitterten seelischen Kampf mit uns selbst wird. Die äußere Verfehlung mag uns und unseren Mitmenschen erspart bleiben, das innere Seelendrama muß durchlitten und bewältigt werden.

Immer schon war das Weibliche ein Bild für die menschliche Seele, und in vielen Gestalten zeigt uns Goethe ihre verschiedenen Seiten. Die lüsterne Hexe, umschwärmt von ihren Affenwesen, ist ein adäquater Ausdruck für jene seelische Schnittstelle, wo sich der tierische Triebleib mit den niedersten menschlichen, aber eben immerhin schon menschlichen Seelenkräften berührt. Wie anders steht schon Gretchen da, mit ihrer kindlich unschuldigen, rein menschlichen Seele, die aber doch auch noch nicht bewußt in die geistige Welt einzutreten vermag, sondern mit nur mit gläubiger ahnender Scheu zu ihr aufzublicken vermag. Rein und unverdorben ist diese irdische menschliche Seele zunächst, aber doch zugleich in größter Gefahr, von der untermenschlichen Bestie vergiftet zu werden. So keusch und sauber auch diese Seele zuerst ist, sie kann sich nicht bewahren vor dem Ansturm des Tieres, wenn sie sich nicht zum Geistigen erhebt. Unschuldig schuldig, willenlos verführt wird Gretchen und endet im Elend. Sie kann weder zu erkennen, noch vermag sie sich zu wehren gegen das, was sie verdirbt. So wie sie das Höchste nur ferne ahnt, spürt sie das Böse nur als dunkles Gefühl.

Faust muß noch tiefer dringen, überleuchtet von der Kraft seines höheren Selbst. In der Hexenküche hat er sich widerwillig in jenen Seelensumpf gewagt, aus dem die Tiefenpsychologie Freud’scher Provenienz das ganze menschliche Leben erklären und therapieren will. Aber damit kratzen wir erst an der Oberfläche der niederen menschlichen Natur. Einer Natur, die der Schöpfung entsprungen ist, in der eine ungeheure Weisheit waltet. Wo schon in der kleinsten Zelle, unendlich mehr Weisheit verkörpert ist, als sich der Mensch trotz seiner rastlosen Naturforschung vorzustellen vermag. Diese Natur, diese Schöpfung, ist, um es mit den alten Überlieferungen zu sagen, ein Geschenk der Götter. Und auch das Tier in uns, unser Triebleib, ist ein solches. Er ist ursprünglich göttlicher Natur. Nur ist er durch luziferische Kräfte an seiner Oberfläche getrübt, verzerrt, wird seiner wahren Natur nicht gerecht. Ein Sündenfall, wie es die Bibel ausdrückt, hat stattgefunden, der den reinen Seelenspiegel so getrübt hat, daß er das Geistige immer weniger und nur mehr ganz verschwommen abzubilden vermag. Es verschwindet beinahe im stinkenden Dunst der von Luzifer regierten Hexenküche.

Hinabsteigen muß Faust in einen Seelenbereich, in dem ihm Mephistopheles nicht mehr folgen kann, in einen Seelenbereich, der hinausführt aus der luziferisch verseuchten Sinnlichkeit, hin zu einer Seelenprovinz, wo noch die ursprünglichen Schöpfermächte zu finden sind, wo die Mütter der menschlichen Seelenkraft wohnen. Äußerer Anlaß dazu ist das Verlangen des Kaisers, Paris und Helena, "das Musterbild der Männer so der Frauen" in "deutlichen Gestalten" zu schauen. Goethe bezog sich hier auf die Sachs’sche Darstellung, wie ein Nekromant am Hofe Kaiser Maximilians die Helena erscheinen läßt. Da war es aber der Kaiser selbst, der ihr verfiel und dadurch paralysiert wurde.

Zu den Müttern also muß Faust hinabsteigen. "Ins Unbetretene, nicht zu Betretende; ein Weg ans Unerbetene, nicht zu Erbittende" führt der Weg, in eine Welt schwankender Erscheinungen ohne feste Kontur:

FAUST. Die Mütter! Mütter! - 's klingt so
wunderlich!

MEPHISTOPHELES.
Das ist es auch. Göttinnen, ungekannt
Euch Sterblichen, von uns nicht gern genannt.
Nach ihrer Wohnung magst ins Tiefste schürfen;
Du selbst bist schuld, daß ihrer wir bedürfen.

FAUST. Wohin der Weg?

MEPHISTOPHELES. Kein Weg! Ins Unbetretene,
Nicht zu Betretende; ein Weg ans Unerbetene,
Nicht zu Erbittende. Bist du bereit? -
Nicht Schlösser sind, nicht Riegel wegzuschieben,
Von Einsamkeiten wirst umhergetrieben.
Hast du Begriff von Öd' und Einsamkeit?

FAUST. Du spartest, dächt' ich, solche Sprüche;
Hier wittert's nach der Hexenküche.

MEPHISTOPHELES.
Und hättest du den Ozean durchschwommen,
Das Grenzenlose dort geschaut,
So sähst du dort doch Well' auf Welle kommen,
Selbst wenn es dir vorm Untergange graut.
Du sähst doch etwas. Sähst wohl in der Grüne
Gestillter Meere streichende Delphine;
Sähst Wolken ziehen, Sonne, Mond und Sterne -
Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne,
Den Schritt nicht hören, den du tust,
Nichts Festes finden, wo du ruhst.

FAUST. Du sprichst als erster aller Mystagogen,
Die treue Neophyten je betrogen;
Nur umgekehrt. Du sendest mich ins Leere,
Damit ich dort so Kunst als Kraft vermehre;
Nur immer zu! wir wollen es ergründen,
In deinem Nichts hoff' ich das All zu finden.

Räumliche Begriffe machen in dieser Welt keinen Sinn mehr, wo alles in strömender Bewegung ist. Oben und unten verlieren hier ihre Bedeutung. Hinter die fertige Schöpfung tritt Faust zurück in den Bereich der Kräfte, die diese Schöpfung erst hervorgebracht haben.

Versinke denn! Ich könnt' auch sagen: steige!
's einerlei. Entfliehe dem Entstandnen
In der Gebilde losgebundne Reiche!

Mephisto kann Faust noch den Schlüssel zu diesem Reich geben, selbst einzutreten vermag er nicht – und damit kann sich Faust zugleich erstmals dem luziferischen Zugriff entziehen!

Der Gang zu den Müttern führt Faust dorthin, wo die menschliche Seele ihren Ursprung gefunden hat. Hier ist die Quelle, aus der die drei wesentlichsten Seelenkräfte, das Denken, Fühlen und Wollen, fließen. Drei Mütter sind es, denen Faust hier begegnet. Man sieht, wie uns Goethe hier in eine Welt führt, die noch viel tiefer reicht als alles das, was die Tiefenpsychologie zu erfassen vermag. Eine umfassende Psychologie der menschlichen Seele führt uns Goethe hier vor Augen, nicht in abstrakten Begriffen, sondern in lebendig gestalteten Bildern.

Die mystische Versenkung in die eigenen Seelentiefen führt Faust bis an das Urbild der menschlichen Seele heran, wie es einstmals von den Göttern geschaffen wurde. Von hier kann er Helena, die dieses ewige Urbild in ihrem schönen Wesen ausdrückt, heraufholen an das Bewußtsein - so stark, so intensiv, daß es durch eine Art Massensuggestion dem ganzen versammelten Hofstaat am Kaiserhof gegenwärtig wird, wobei Mephisto tüchtig hilft, wodurch aber auch wiederum alles seinem Zugriff unterliegt. Was in der Hexenküche erst wie ein flüchtiger Schein vorüber huschte, steht Faust nun ganz klar in der Seele. Und doch – real zu vereinigen vermag er sich mit dieser ewigen menschlichen Seele noch nicht. Kaum will er Helena berühren, von erneut aufwallenden Begierden getrieben, zerstäubt das Bild in einer mächtigen Explosion, und Faust stürzt wie gelähmt ohnmächtig zu Boden.

Das ist die Gefahr aller Mystik, die in die inneren Seelentiefen vordringt, daß das, was von dort auch immer ans Bewußtsein heraufgebracht wird, wieder durch die luziferische Sphäre hindurch getragen werden muß. Höchstes kann wieder von der niedersten Begierde ergriffen werden – mit fatalen Folgen für das Seelenleben. Wie ein gewaltiger elektrischer Schlag können diese übermächtigen Seelenkräfte, das Bewußtsein treffen, wenn dieses nicht völlig rein und frei von sinnlicher Glut sich ihnen hingeben kann. Man sehe sich nur manche mystische Schriften an und beachte, welche wollüstige Phantasien sich da oftmals hinein mischen.

Alchymie und das Geheimnis der Menschwerdung

Der subjektive Weg in die Abgründe der Seele ist gefährlich. Ein objektiver Weg muß beschritten werden. Was also mußte Goethe tun, um diesen Weg zu zeigen? Er muß gleichsam auf objektive Weise den ganzen Prozeß der Menschwerdung, die ganze Schöpfung, nachvollziehen. Er muß zeigen, wie ein Mensch wird, aber nicht bloß durch Geburt, denn dieser Geburtsvorgang ist selbst nur ein Endglied des ganzen Schöpfungsprozesses, sondern wie alle Kräfte der Natur, wie der ganze Kosmos mitgewirkt hat, um endlich am Ende einer unüberschaubar scheinenden Reihe natürlicher Geschöpfe den Menschen die feste Erde betreten zu lassen. Ja er muß sogar zeigen, wie diese feste Erde selbst entstanden ist. Er muß vom bloßen mystischen seelischen Bild zu den realen Naturkräften vordringen, in denen sich das Seelische objektiviert. Nicht bei der Mystik darf er stehenbleiben, er muß zur "Alchymie" voranschreiten. Die "unio mystica" muß zu "Chymischen Hochzeit" werden, denn was tut Alchymie? Sie zeigt, wie sich Seelisches im Stofflichen, Inneres im Äußeren manifestiert. Jedem alchymischen Prozeß, wie er sich sinnlich beobachten läßt, entspricht ein innerer Seelenvorgang und umgekehrt. Beides sind zwei Seiten ein und desselben Vorganges. Es geht um eine übersinnliche Wirklichkeit, die sich in der sinnlichen und in der seelischen Welt gleichermaßen kundgibt. Das hat bemerkenswerterweise der Quantenphysiker Wolfgang Pauli, den neben seinem ausgeprägten rationalen mathematisch orientierten Verstand auch ein sehr intensives Traumleben auszeichnete, deutlich geahnt:

Wenn man die vorbewusste Stufe der Begriffe analysiert, findet man immer Vorstellungen, die aus «symbolischen» Bildern mit im allgemeinen starkem emotionalen Gehalt bestehen. Die Vorstufe des Denkens ist ein malendes Schauen dieser inneren Bilder, deren Ursprung nicht allgemein und nicht in erster Linie auf Sinneswahrnehmungen ... zurückgeführt werden kann ....

Die archaische Einstellung ist aber auch die notwendige Voraussetzung und die Quelle der wissenschaftlichen Einstellung. Zu einer vollständigen Erkenntnis gehört auch diejenige der Bilder, aus denen die rationalen Begriffe gewachsen sind. ... Das Ordnende und Regulierende muss jenseits der Unterscheidung von «physisch» und «psychisch» gestellt werden - so wie Platos's «Ideen» etwas von Begriffen und auch etwas von «Naturkräften» haben (sie erzeugen von sich aus Wirkungen). Ich bin sehr dafür, dieses «0rdnende und Regulierende» «Archetypen» zu nennen; es wäre aber dann unzulässig, diese als psychische Inhalte zu definieren. Vielmehr sind die erwähnten inneren Bilder («Dominanten des kollektiven Unbewussten» nach Jung) die psychische Manifestation der Archetypen, die aber auch alles Naturgesetzliche im Verhalten der Körperwelt hervorbringen, erzeugen, bedingen müssten. Die Naturgesetze der Körperwelt wären dann die physikalische Manifestation der Archetypen. ... Es sollte dann jedes Naturgesetz eine Entsprechung innen haben und umgekehrt, wenn man auch heute das nicht immer unmittelbar sehen kann.

Der Anthroposoph Hermann Beckh hat es so ausgedrückt:

Gewiß handelt es sich bei den hier angedeuteten "chymischen Geheimnissen" nicht nur um das Materielle, um "Goldmacherei". Im Laufe der Betrachtung wird immer deutlicher werden, wie das Wesen des "Chymischen", im Unterschiede vom "Chemischen", gerade darin zu suchen ist, wie man da nicht, wie in der Chemie, beim Äußerlich-stofflich-Materiellen stehen bleiben kann, sondern erkennen muß, wie das Geheimnis des Materiell-Stofflichen selbst in höhere Welten-Zusammenhänge und Menschen-Zusammenhänge verwoben ist, wie alle "Maya" des Stofflichen in der Realität des Geistig-Übersinnlichen urständet.

Wie ein Mensch aus dem ganzen Umkreis der Naturkräfte entsteht, das zeigt uns Goethe nun im zweiten Akt. Wagner, nun selbst zum Forscher geworden, macht sich in seinem Laboratorium gerade daran, in einer geheimnisvoll leuchtenden Phiole einen künstlichen Menschen herzustellen, den Homunkulus:

Es leuchtet! seht! - Nun läßt sich wirklich hoffen,
Daß, wenn wir aus viel hundert Stoffen
Durch Mischung - denn auf Mischung kommt es
an -
Den Menschenstoff gemächlich komponieren,
In einen Kolben verlutieren
Und ihn gehörig kohobieren,
So ist das Werk im stillen abgetan.

Mit Mephistos Hilfe gelingt das Werk, ein nahezu körperloses, licht- und flammenartiges Wesen erscheint im Glas. Er ist eigentlich noch ganz Subjekt, hat noch kaum objektive Realität. Homunkulus, die Träume des paralysiert daliegenden Fausts in Gedanken lesend, sieht, wie diesem träumt, daß Zeus in Schwanengestalt sich Leda naht, zum göttlichen Vater der schönen Helena wird. Er weist Mephisto mit Faust zur klassischen Walpurgisnacht nach Griechenland. Und damit beginnt ein beispielloser Reigen der griechischen Mythologie entlehnter Bilder, mit denen Goethe in immer wieder neuem Anlauf schildert, wie sich der Homunkulus zu verkörpern beginnt. Der Weg führt durch alle Naturelemente und wir begegnen dabei den geistigen Wesen, die in ihnen schaffend wirken. Es würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen, die Geschehnisse der klassischen Walpurgisnacht ausführlicher zu besprechen, nur einige Gesichtspunkte können kurz angedeutet werden. Zuerst einmal ist es wichtig zu begreifen, warum Goethe seinen Faust überhaupt in die griechische Welt einführt. Sicher, ein erster Grund besteht darin, daß Faust ja seine Helena finden soll, und diese findet sich nun einmal in der griechischen Sphäre. Aber das ist eigentlich nur der äußere Anlass der Ereignisse. Wesentlicher ist, daß Goethe meinte, nur in der Bilderwelt der griechischen Mythologie ein gehöriges Ausdrucksmittel dafür zu finden, wie sich Seelisches mit dem Natürlichen verbindet, wie sich Seelisches so verdichten und konkretisieren läßt, daß es uns so klar und real vor Augen steht wie die äußere Natur, wie aber zugleich alles natürliche so transparent wird, daß sich das in ihm wirkende Geistige dem sehenden Blick eröffnet. Die Naturanschauung von Goethes eigener Zeit, die immer mehr dem Materialismus und Mechanizismus zueilte, schien ihm dazu nicht hinzureichen. Die Cartesianische Spaltung der Welt in Innen- und Außenwelt, die unvermittelt nebeneinander stehen, konnte ihn nicht befriedigen. Goethe suchte sie ja auch in seiner Tätigkeit als Naturforscher zu überwinden. Er will nicht, um Goethes Worte zu verwenden, die Sinnliche Sphäre getrennt und unvermittelt neben die sittliche Anschauung stellen, sondern er sucht in allem Naturgeschehen die sinnlich-sittliche Wirkung, wie er es etwa in seiner Farbenlehre beschrieb. Auch in seiner Metamorphosenlehre beschrieb er mit seiner "Urpflanze" eine übersinnliche ideelle Realität, die sich ihre sinnlichen Abbilder in der äußeren Pflanzenwelt schafft. Was so Goethe einerseits in seinen naturwissenschaftlichen Schriften darstellte, das zeigt er hier im zweiten Teil des Faust mit künstlerischen Mitteln.

Helena soll also aus dem Totenreich, aus der Unterwelt hervorgeholt werden und zwar in so realer Gestalt wie ein körperliches Wesen. Das ist ja der Fortschritt in der Fausttragödie, das dem Faust die Geistgestalt der Helena, die er erstmals in der Hexenküche als flüchtigen Schatten erlebt hat, immer greifbarer wird. Die düstere thessalische Hexe Erichtho, die große Nekromantin, die Totenbeschwörerin, eröffnet bezeichnenderweise den Reigen der klassischen Walpurgisnacht, der finsteren Unterwelt muß Helena entrissen werden und vor dem klaren, hellen geistigen Bewußtsein wieder lebendig gemacht werden. Faust wird selbst, zuerst geführt vom Kentauren Chiron, dann von der Seherin Manto, in die Unterwelt, in Persephones Reich, hinabsteigen müssen, um seine Helena zu finden.

Faust, Mephisto und Homunkulus durchschreiten auf getrennten Wegen, die sich allerdings gelegentlich überkreuzen, die Walpurgisnacht. Jeder wird in jenen geistigen Bereich geführt, der seinem Wesen entspricht. Alle begegnen sie noch den Sphinxen, den Sirenen und Greifen usw., aber bald schon wird Faust in die Unterwelt geführt. Mephisto stößt auf lauter Schreckensgestalten. Er trifft auf die vampierartigen Lamien, auf die Spukgestalt der Empuse und endlich auf die urhäßlichen Phorkyaden, die drei Schwestern der Gorgonen, die sich gemeinsam ein Auge und einen Zahn teilen. Schließlich verwandelt sich Mephisto selbst zur Phorkyas und offenbart dadurch sein wahres ahrimanisches Wesen. So tritt die wahre geistige Gestalt aller Protagonisten der Handlung immer deutlicher hervor.

Der bloße lichte flackernde Seelenfunke des Homunkulus, der zunächst noch ein ganz abstraktes körperloses Wesen ist, muß sich mit den Naturelementen verbinden, mit ihnen zusammenfließen, um sich bis hin zu einer realen menschlichen Erscheinung zu verdichten. Er muß in das fließende Lebenselement des Wassers eintauchen, wenn das gelingen soll. Hier wirken die Nereiden, die Tritonen und Doriden als schaffende Geister. Sie bringen bei dem großen Meeresfest auch die samothrakischen Götter, die Kabiren heran, die Götter alles Werdens und Entstehens. Durch die verschiedensten Lebensformen hindurch muß sich Homunkulus verwandeln, so wie es der Philosoph Thales, der ihm hier begegnet und der den Ursprung alles Lebens in der lebendigen Feuchte gesehen hat, ihm andeutet:

Gib nach dem löblichen Verlangen,
Von vorn die Schöpfung anzufangen!
Zu raschem Wirken sei bereit!
Da regst du dich nach ewigen Normen,
Durch tausend, abertausend Formen,
Und bis zum Menschen hast du Zeit.

Alles, was sich Goethe in seiner Metamorphosenlehre erarbeitet hat, steht hier im künstlerischen Bild vor unseren Augen. Konsequent muß nun auch Proteus auftreten, der Gott des Ursprungs, der sich in immer neue Gestalten verwandelt, einmal als Riesenschildkröte, dann wieder als Delphin erscheint.

Zugleich aber muß sich die feste Erde, das Gebirge auftürmen, um den festen Boden zu schaffen, der dem Menschen die nötige Grundlage gibt, um dem fließenden Gewoge des Meeres zu entsteigen und sich als "Anthropos", als "Aufgerichteter", und damit als Ich-Träger zu verwirklichen. So regt sich denn auch Seismos in den Tiefen der Erde, um das harte Gestein aufzuwerfen. Ob mehr durch die explosive vulkanische Kraft des Feuers, oder das sanft bildende plastische Fließen des wäßrigen Elements, darüber setzten sich die beiden Philosophen Thales und Anaxagoras auseinander.

Über allem aber waltet das kühle Silberlicht des Mondes, das alle sich beweglich verwandelnden Gestalten schließlich in ihrer endgültigen Form erstarren läßt. Man beachte nur, wie oft Goethe das Mondenlicht ins Spiel bringt. Es führt uns zugleich in jenen Bewußtseinsbereich, der, vergleichbar dem Traum, an der Schwelle zwischen dem tieferen geistigen und dem äußeren sinnlichen Bewußtsein steht. Der Mond hebt die schwankende Welt der bewegten Gefühle herauf und verdichtet sie zu den lebendigen Bildern der Phantasie. Einer Phantasie, die aber mehr ist als bloße willkürliche Phantasterei, sondern in der sich geistige Wirklichkeit in bildhafter Form aussprechen. Faust fühlt sich von ihm schon im ersten Teil, als das bleiche Mondlicht durch die trüben Scheiben seiner Studierstube fällt, wie magisch angezogen. Jetzt, als die klassische Walpurgisnacht ihrem Höhepunkt zustrebt, kulminiert auch diese Mondenwirkung, wir finden den "Mond im Zenit verharrend."

Der Muschelwagen der schönen Galatea ist nichts anderes als dieses im Stofflichen verdichtete Mondenlicht. An ihm zerschellt Homunkulus im sprühenden Funkenregen um ganz im Reich der Elemente aufzugehen. Die wesenlos über der Natur schwebende Seele hat den Weg zu ihrer Verkörperung gefunden – und damit kann gleich zu Beginn des nächsten, des dritten Aktes, Helena als real greifbares Wesen erscheinen!

"Noch immer trunken von des Gewoges regsamem Geschaukel", umringt von dem Chor gefangener Trojanerinnen tritt Helena auf den Platz vor dem Palast des Menelas zu Sparta. Auch sie ist eine unschuldig schuldig Gewordene, wie einst Gretchen, aber jetzt in menschheitlich weiter Dimension. Wurde sie von Paris wider Willen geraubt, oder ist sie ihm freiwillig gefolgt? Ihretwegen jedenfalls entflammte der Trojanische Krieg, der zugleich die Auseinandersetzung der altorientalischen Weisheit mit dem griechischen Verstand bedeutete, der geoffenbarten göttlichen Weisheit mit dem selbst errungenen menschlichen Denken, wie es sich besonders in der Gestalt des "listigen" Odysseus verkörperte. Helena ist mehr als nur Person, sie ist zugleich so etwas wie die Seele des ganzen "hellenischen" Volkes, aber bringt sie die "Helle", das neue Licht der menschlichen, vom Ich durchdrungenen Vernunft, oder folgt ihren Pfaden die "Hölle", das luziferisch infizierte Licht der alten instinktiven Naturweisheit? Wird ihr Mann, Menelas ("Menes" heißt soviel wie "Mensch") sie wieder annehmen, oder wird er sie verstoßen ob ihres Bundes mit Paris? Mephisto jedenfalls suggeriert ihr, daß Menelas schon ein Opfer bereiten ließe, und sie selbst, Helena, solle dabei geopfert werden. Mephisto, in Gestalt der häßlichen Phorkyas, steht dabei als sprechender Gegensatz neben Helena, dem Urbild der Schönheit. Schon naht Menlas mit seinem Heer und Mephisto-Phorkyas drängt zur schleunigen Flucht. Eine feste Burg wisse er nördlich von hier, dort könnte sie mit ihrem Chor Zuflucht finden.

Die Szene verwandelt sich und Helena findet sich im inneren Burghof einer mittelalterlichen Burg wieder, wo sie von Faust empfangen wird, denn er ist der Herr dieser Burg. Von ihrer Schönheit und Güte überwältigt bietet Faust ihr die Herrschaft an, unterwirft sich ihr, doch sie will die Regentschaft mit ihm teilen. Das Heer des Menelas wird zurückgeschlagen und Faust zieht sich mit Helena in die mythische Landschaft Arkadien zurück. Hier, in einer weiten Höhle tief unter dem dichten Hain, findet die Vereinigung von Faust und Helena, ihre "Chymische Hochzeit" statt.

Als Folge der "Chymischen Hochzeit" von Faust und Helena wird beider Kind geboren: Euphorion. Er ist die geistige Frucht der Vereinigung von Fausts Ich mit seiner ewigen Seele. Und es ist nicht eine geistige Frucht im allgemeinen, sondern eine ganz spezifische geistige Fähigkeit, die so errungen wird. Goethe erwähnte Eckermann gegenüber, welche er hier im besonderen meinte: die Poesie. Goethe schildert das Geistige eben nicht abstrakt, sondern ganz konkret. Euphorion ist die wesenhafte geistige Kraft der Poesie; jede weitere neue geistige Befähigung bedarf der Geburt eines neuen geistigen Kindes. Die geistige Zeugung wird zur höheren Metamorphose der irdischen Zeugung, wie es Goethe in seinem Gedicht "Selige Sehnsucht" beschreibt:

Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend'ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du, Schmetterling, verbrannt.

Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Dieses "Stirb und Werde" muß sich beständig wiederholen. Wenn auch das geistige Kind in Feiertagsmomenten des Lebens geboren wird, so muß es doch wieder in die dunkle Welt des Unbewußten versinken, genauso, wie das mit Euphorion geschieht. Der Mensch, solange er auf Erden lebt und hier seine Aufgabe in der äußeren Welt hat, kann, auch wenn sich ihm die geistige Welt eröffnet hat, nicht dauerhaft in ihr verweilen. Er muß zu seiner Erdenaufgabe zurückkehren, die aber nun ihrerseits durch seine geistigen Erlebnisse befruchtet wird. Euphorion versinkt in der unteren Welt und flehend ruft er nach seiner Mutter. Auch Helena muß sich von Faust nun wieder trennen und folgt Euphorion in die Unterwelt. Die Vereinigung mit der ewiger Seele kann für den irdischen Menschen keine dauerhafte sein, sie muß immer wieder von neuem errungen werden. Wenn Helena versinkt und ihr Gewand sich in Wolken auflöst, die Faust umhüllen und emporheben, beginnt sich auch der Chor zu verwandeln zu einem Reigen von Elementarwesen, die in die Naturreiche hinein verschwinden.

Zurückgegeben sind wir dem Tageslicht,
Zwar Personen nicht mehr,
Das fühlen, das wissen wir,
Aber zum Hades kehren wir nimmer.
Ewig lebendige Natur
Macht auf uns Geister,
Wir auf sie vollgültigen Anspruch.

So wie sich zuerst der Mensch aus dem ganzen Umkreis der Naturkräfte aufgebaut hat, so wirkt seine Seelenkraft nun in die Natur hinein und verwandelt sie von innen her. Der alchymistische Prozeß hat sich vollendet.

Die Liebe zur Tat

Die geistige Entwicklung hat Faust nicht weltflüchtig gemacht, er ist reif geworden, die irdische Welt tatkräftig zu verändern. Die Bewährung in den irdischen Verhältnissen ist die Voraussetzung dafür, daß Faust am Ende erlöst werden kann und Mephisto entkommt. Das ganze Walpurgisnachtsgeschehen und der dritte Akt, die Vereinigung Fausts mit Helena, stellen sich in gewaltigen Seelenbildern dar. Jetzt, zu Beginn des vierten Aktes, findet sich Faust in der äußeren Welt inmitten des Hochgebirges wieder. Ein großer Plan reift in seiner Seele. Er will dem weiten wogenden Meer neues festes, fruchtbares Land abgewinnen. Die "zwecklose Kraft unbändiger Elemente" will er besiegen, als plötzlich Trommeln und kriegerische Musik aus der Ferne ertönen. Der Kaiser ist in arger Bedrängnis, der Krieg erschüttert sein Reich und er droht schon von seinen Feinden überwältigt zu werden. Doch mit Hilfe von Mephistos Zauberkraft gelingt es Faust, die Gegner zurückzuschlagen. Als Dank für seinen Sieg überläßt ihm der Kaiser einen kargen Küstenstreifen, wo Faust sein großes Werk im Dienste der Menschheit vollenden kann – fast vollenden kann. Ein kleines armseliges Hüttchen stört seinen Blick. Philemon und Baucis, sie wollen ihren Besitz nicht aufgeben, der Faust wie ein häßlicher Schandfleck in seinem Werk erscheint. Mephisto soll die beiden bewegen, doch zu gehen, friedlich zu gehen, aber unter Mephistos Führung geht das Hüttchen in Flammen auf und Philemon und Baucis kommen darin um. Ein letztes Mal hat Faust Schuld auf sich geladen. Vier graue Weiber suchen ihn heim: die Schuld, der Mangel, die Not und die Sorge. Drei müssen wieder gehen, sie haben keine Gewalt mehr über Faust; nur die Sorge bleibt. Sie haucht in an, und der mittlerweile hundertjährige Faust erblindet. Das sinnliche Licht wird ihm geraubt, dafür beginnt das innere Licht zu leuchten, durch diese letzte Erschütterung geweckt:

Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen,
Allein im Innern leuchtet helles Licht;

Noch einmal spornt der erblindete Faust seine Gehilfen an. Er hört das Geklirr der Spaten und Schaufeln. Aber während er glaubt, daß das Arbeiterheer die letzten Spatenstiche zur Vollendung seines Werkes machen, heben in Wahrheit die Lemuren, von Mephisto dazu herbeigerufen, schon Fausts Grab aus. Faust fühlt sich seinem Ziel nahe, ein letzter Anflug luziferischer Selbstgefälligkeit erfaßt ihn:

Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft' ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Äonen untergehn. -
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick.

Damit sinkt er tot zu Boden, und nun glaubt Mephisto sich an seinem Ziel. Der Pakt, vor langer Zeit in Fausts Studierzimmer geschlossen, scheint sich in seinem Sinn erfüllt zu haben – und doch kommt alles noch ganz anders.

Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan

Bei der Besprechung der klassischen Walpurigisnacht kamen wir auf das Mondensilber zu sprechen. Aber nicht nur das Mondensilber, sondern auch das Sonnengold spielt eine entscheidende Rolle durch die ganze Fausttragödie hindurch. Das Gold ist ein Bild für die Weisheit, jener Weisheit, die im Seelenleib waltet, der durch die göttliche Schöpferkraft geschaffen wurde, die aber dann durch den luziferischen Einschlag verunreinigt wurde. Soll die ins vergängliche Sinnliche verführte Seele wieder aufsteigen zum Ewigen, dann muß sie wieder zu lauterem Gold werden. Man sieht hier die eigentliche Bedeutung des "Goldmachens" im alchymistischen Prozeß. Wenn Gretchen in ihrer Kammer das Schatzkästen voll goldenen Schmuckes findet, dann ist es eine Gabe Mephistos, eine Gabe Luzifers, die sie zum sinnlichen Genuß verführt:

Nach Golde drängt,
Am Golde hängt
Doch alles. Ach wir Armen!

Die Seele verarmt, wenn sie dieser Begierde nach dem sinnlichen Gold folgt. Dieses Motiv taucht dann auch in der romantischen Walpurgisnacht des ersten Teils auf, wo Mammon im Berg erglüht, und nochmals, als sich Faust während der Mummenschanz-Szene am Kaiserhof in der Maske des Plutus, des Herrn der unterirdischen Reichtümer, daran macht, die Schätze der Tiefe für den Kaiser zu heben. Aber alles ist nur billiger Schein, Illusion, die schließlich in die Erfindung des Papiergeldes mündet. Jetzt wird die ursprüngliche Weisheit vom plutokratischen ahrimanischen Intellekt ergriffen, die rauschhafte begierdenerweckende Illusion wird zur eiskalten Lüge, zur bewußten Täuschung. Ob das Gold, ob die Weisheit wieder dem Geistigen zurückgewonnen werden kann, darüber entspinnt sich der Kampf in der klassischen Walpurgisnacht, wenn die Greife und die Arimaspen um das Gold ringen, das die Ameisen fleißig zusammentragen. Am Ende der ganzen Tragödie, bei Faust Himmelfahrt, wird die geläuterte, die "Heilige Weisheit", die "Hagia Sophia", die reine "Jungfrau Sophia", die ewige Seele in neuer Gestalt wiedergewonnen sein und in Form der "Mater Gloriosa" szenisch erscheinen. Jetzt ist es nicht mehr die Dreiheit der Mütter, in denen die Seelenkräfte ihren göttlichen Ursprung genommen haben, sondern jetzt ist es die durch das höhere Ich erneuerte eine ewige menschliche "Mutter". Naturweisheit ist zur Menschenweisheit, zur "Anthroposophia" geworden, aber zu einer Menschenweisheit, in der das nicht das Vergängliche, sondern das Ewige lebt:

Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;

Großartig dabei, wie Goethe diesen Übergang von der Dreiheit der Seelenkräfte zu der durch das Ich geeinten Seele darstellt, wie er den Übergang von den heidnischen Naturkräften zu den neuen durchchristeten Seelenkräften findet. Ehe die Mater Gloriosa hervortritt, erscheinen noch die drei Büßerinnen, dann die eine unschuldig-schuldig gewordene Seele, Una Poenitentium, sonst Gretchen genannt, und endlich die reine Seele selbst, eben die Mater Gloriosa, aus der die Christuskraft, die göttliche Ich-Kraft geboren werden kann.

Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen,
Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben teilgenommen,
Begegnet ihm die selige Schar
Mit herzlichem Willkommen.

Zu Eckermann sagte Goethe:

»In diesen Versen«, sagte er, »ist der Schlüssel zu Fausts Rettung enthalten: in Faust selber eine immer höhere und reinere Tätigkeit bis ans Ende, und von oben die ihm zu Hülfe kommende ewige Liebe. Es steht dieses mit unserer religiösen Vorstellung durchaus in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigene Kraft selig werden, sondern durch die hinzukommende göttliche Gnade.

Übrigens werden Sie zugeben, daß der Schluß, wo es mit der geretteten Seele nach oben geht, sehr schwer zu machen war und daß ich, bei so übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen, mich sehr leicht im Vagen hätte verlieren können, wenn ich nicht meinen poetischen Intentionen durch die scharf umrissenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen eine wohltätig beschränkende Form und Festigkeit gegeben hätte.«

Wollte man den Schluß des Faust, wie er im Chorus mysticus ausklingt, in einem einzigen Bild zusammenfassen, dann müßte man dieses Bild aus dem 12. Kapitel der Apokalypse des Johannes wählen:

12,1 Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen.

Oder mit Goethes Worten:

DOCTOR MARIANUS,
(auf dem Angesicht anbetend.)
Blicket auf zum Retterblick,
Alle reuig Zarten,
Euch zu seligem Geschick
Dankend umzuarten.
Werde jeder beßre Sinn
Dir zum Dienst erbötig;
Jungfrau, Mutter, Königin,
Göttin, bleibe gnädig!

CHORUS MYSTICUS.
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird's Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist's getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.

Finis.

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