| Wer gegenwärtig mit offenen Augen die Welt um
                  sich herum betrachtet, der sieht überall das sich mächtig
                  erheben, was man die «soziale Frage» nennt. Diejenigen,
                  welche es mit dem Leben ernst nehmen, müssen in irgendeiner
                  Art sich Gedanken über das machen, was mit dieser Frage
                  zusammenhängt. Und wie selbstverständlich muß es
                  erscheinen, daß eine solche Vorstellungsart, welche zu ihren
                  Aufgaben die höchsten Menschheitsideale gemacht hat,
                  irgendwie ein Verhältnis gewinnen muß zu den sozialen
                  Anforderungen. Eine solche Vorstellungsart will aber die
                  geisteswissenschaftliche für die Gegenwart sein. Deshalb ist
                  es nur natürlich, wenn nach diesem Verhältnis gefragt wird.
                   Nun kann es zunächst den Eindruck machen, als
                  ob die Geisteswissenschaft nichts Besonderes nach dieser
                  Richtung hin zu sagen hätte. Man wird als ihren
                  hervorstechendsten Charakterzug zunächst die Verinnerlichung
                  des Seelenlebens und die Erweckung des Blickes für eine
                  geistige Welt erkennen. Selbst solche, die sich nur flüchtig
                  mit den Ideen bekannt machen, welche durch
                  geisteswissenschaftlich orientierte Redner und Schriftsteller
                  Verbreitung finden, werden bei unbefangener Betrachtung dieses
                  Streben erkennen können. Schwieriger ist es aber einzusehen,
                  daß dieses Streben gegenwärtig eine praktische
                  Bedeutung habe. Und insbesondere kann nicht leicht dessen
                  Zusammenhang mit der sozialen Frage einleuchtend werden. Was
                  soll, so wird mancher fragen, eine Lehre den sozialen Übelständen
                  helfen, die sich mit «Wiederverkörperung», mit «Karma»,
                  mit der «übersinnlichen Welt», mit der «Entstehung des
                  Menschen» und so weiter befaßt? Eine solche Gedankenrichtung
                  scheint von aller Wirklichkeit hinweg in ferne Wolkenhöhen zu
                  fliegen, während jetzt doch ein jeder dringend nötig hätte,
                  sein ganzes Denken zusammenzunehmen, um den Aufgaben zu genügen,
                  welche die irdische Wirklichkeit stellt. 
                  Von all den verschiedenen Meinungen, die gegenwärtig
                  in bezug auf die Geisteswissenschaft notwendig hervortreten müssen,
                  seien hier zwei verzeichnet. Die eine besteht darin, daß man
                  sie als den Ausdruck einer zügellosen Phantastik ansieht. Es
                  ist ganz natürlich, daß eine solche Ansicht besteht. Und sie
                  sollte am wenigsten für den geisteswissenschaftlich
                  Strebenden etwas Unbegreifliches haben. Jedes Gespräch in
                  seiner Umgebung, alles, was um ihn herum vorgeht, was den
                  Menschen Lust und Freude macht, alles das kann ihn darüber
                  belehren, daß er zunächst eine für viele geradezu närrische
                  Sprache führt. Zu diesem Verständnis seiner Umgebung muß er
                  dann allerdings die unbedingte Sicherheit hinzubringen, daß
                  er auf dem rechten Wege ist. Sonst könnte er kaum aufrecht
                  stehen, wenn er sich den Widerstreit seiner Vorstellungen mit
                  denen so vieler anderer klar macht, die zu den Unterrichteten
                  und Denkenden gehören. Hat er die rechte Sicherheit, kennt er
                  die Wahrheit und Tragkraft seiner Ansicht, dann sagt er sich:
                  ich weiß ganz gut, daß ich gegenwärtig als Phantast
                  angesehen werden kann, und es ist mir einleuchtend, warum das
                  so ist; aber die Wahrheit muß wirken, auch wenn sie verlacht
                  und verhöhnt wird, und ihre Wirkung hängt nicht ab von den
                  Meinungen, die man über sie hat, sondern von ihrer gediegenen
                  Grundlage.
                  Die andere Meinung, von welcher die
                  Geisteswissenschaft betroffen wird, ist die, daß ihre
                  Gedanken zwar schön und befriedigend seien, daß sie aber nur
                  für das innere Seelenleben, nicht für den praktischen
                  Lebenskampf einen Wert haben können. Selbst solche, welche
                  zur Stillung ihrer geistigen Bedürfnisse nach der
                  geisteswissenschaftlichen Nahrung verlangen, können nur zu
                  leicht versucht sein, sich zu sagen: Ja, aber wie der sozialen
                  Not, dem materiellen Elend beizukommen ist, darüber kann
                  diese Gedankenwelt doch keine Aufklärung geben. - Nun beruht
                  aber gerade diese Meinung auf einem vollständigen Verkennen
                  der wirklichen Tatsachen des Lebens, und vor allen Dingen auf
                  einem Mißverständnisse gegenüber den Früchten der
                  geisteswissenschaftlichen Vorstellungsart. 
                  Man fragt nämlich fast ausschließlich: was
                  lehrt die Geisteswissenschaft? Wie kann man beweisen, was sie
                  behauptet? Und man sucht dann die Frucht in dem Gefühl der
                  Befriedigung, die man aus den Lehren schöpfen kann. Das ist
                  natürlich so selbstverständlich wie möglich. Man muß ja
                  zunächst eine Empfindung für die Wahrheit von Behauptungen
                  erhalten, die einem gegenübertreten. Die wahre Frucht
                  der Geisteswissenschaft darf aber darinnen nicht gesucht
                  werden. Diese Frucht zeigt sich nämlich erst dann, wenn der
                  geisteswissenschaftlich Gesinnte an die Aufgaben des
                  praktischen Lebens herantritt. Es kommt darauf an, ob ihm die
                  Geisteswissenschaft etwas hilft, diese Aufgaben einsichtsvoll
                  zu ergreifen und mit Verständnis die Mittel und Wege zur Lösung
                  zu suchen. Wer im Leben wirken will, muß das Leben erst
                  verstehen. Hier liegt der Kernpunkt der Sache. Solange man
                  dabei stehen bleibt, zu fragen: was lehrt die
                  Geisteswissenschaft, kann man diese Lehren zu «hoch» für
                  das praktische Leben finden. Wenn man aber darauf das
                  Augenmerk richtet, welche Schulung das Denken und Fühlen
                  durch diese Lehren erfährt, dann wird man aufhören, solchen
                  Einwand zu machen. So absonderlich es für die oberflächliche
                  Auffassung erscheinen mag, es ist doch richtig: die scheinbar
                  im Wolkenkuckucksheim schwebenden geisteswissenschaftlichen
                  Gedanken bilden den Blick aus für eine richtige Führung des
                  alltäglichen Lebens. Und die Geisteswissenschaft schärft
                  gerade dadurch das Verständnis für die sozialen Forderungen,
                  daß sie den Geist erst in die lichten Höhen des Übersinnlichen
                  führt. So widerspruchsvoll das erscheint, so wahr ist es.
                  Es soll einmal an einem Beispiele gezeigt
                  werden, was damit gemeint ist. Ein ungemein interessantes Buch
                  ist in der letzten Zeit erschienen: «Als Arbeiter in Amerika»
                  (Berlin K. Siegismund). Es hat zum Verfasser den Regierungsrat
                  Kolb, der es unternommen hat, monatelang als gewöhnlicher
                  Arbeiter in Amerika zuzubringen. Dadurch hat er sich ein
                  Urteil über Menschen und Leben angeeignet, wie es ihm
                  offenbar ebensowenig der Bildungsweg hätte geben können,
                  durch den er Regierungsrat geworden ist, noch auch die
                  Erfahrungen, welche er auf diesem Posten und auf all den
                  Stellen hat sammeln können, die man einnimmt, bevor man
                  Regierungsrat wird. Er war somit jahrelang an einer verhältnismäßig
                  verantwortungsvollen Stelle, und erst, als er aus dieser
                  herausgetreten ist und - kurze Zeit - in fernem Lande gelebt
                  hat, lernt er das Leben so kennen, daß er in seinem Buche den
                  folgenden beherzigenswerten Satz schreibt: «Wie oft hatte ich
                  früher, wenn ich einen gesunden Mann betteln sah, mit
                  moralischer Entrüstung gefragt: Warum arbeitet der Lump
                  nicht? Jetzt wußte ichs. In der Theorie sieht sichs eben
                  anders an, als in der Praxis, und selbst mit den
                  unerfreulichsten Kategorien der Nationalökonomie hantiert
                  sichs am Studiertisch ganz erträglich.» Nun soll hier
                  nicht das geringste Mißverständnis hervorgerufen werden. Die
                  vollkommenste Anerkennung muß dem Manne entgegengebracht
                  werden, der es sich abgewonnen hat, aus behaglicher Lebenslage
                  herauszutreten, und in einer Brauerei und Fahrradfabrik schwer
                  zu arbeiten. Die Hochschätzung dieser Tat soll vorerst möglichst
                  stark betont werden, damit nicht der Glaube erweckt werde, es
                  solle der Mann abfälliger Kritik unterworfen werden. - Aber für
                  jeden, der sehen will, ist unbedingt klar, daß alle
                  Schulung, alle Wissenschaft, die der Mann durchgemacht hat,
                  ihm kein Urteil über das Leben gegeben haben. Man versuche es
                  sich doch klar zu machen, was damit zugestanden ist:
                  Man kann alles lernen, was einen gegenwärtig befähigt, verhältnismäßig
                  leitende Stellen einzunehmen: und man kann dabei dem Leben,
                  auf das man wirken soll, ganz ferne stehen. - Ist das nicht
                  so, als wenn man in irgendeiner Schule für den Brückenbau
                  ausgebildet würde, und dann, wenn man vor die Aufgabe tritt,
                  eine Brücke zu bauen, man nichts davon verstehe? Doch
                  nein: es ist nicht ganz so. Wer sich für den Brückenbau
                  schlecht vorbereitet, dem wird sein Mangel bald klar werden,
                  wenn er an die Praxis herantritt. Er wird sich als Pfuscher
                  erweisen und überall zurückgewiesen werden. Wer sich aber für
                  das Wirken im sozialen Leben schlecht vorbereitet, dessen Mängel
                  können sich nicht so schnell erweisen. Schlecht gebaute Brücken
                  stürzen ein; und dem Befangensten ist dann klar, daß der Brückenbauer
                  ein Pfuscher war. Was aber im sozialen Wirken verpfuscht wird,
                  das zeigt sich nur darinnen, daß die Mitmenschen darunter
                  leiden. Und für den Zusammenhang dieses Leidens mit dem
                  Pfuschertum hat man nicht so leicht ein Auge wie für das Verhältnis
                  zwischen Brückeneinsturz und unfähigem Baumeister. - «Ja,
                  aber», wird man sagen, «was hat denn das alles mit der
                  Geisteswissenschaft zu tun? Glaubt der geisteswissenschaftlich
                  Gesinnte etwa gar, daß seine Lehren dem Regierungsrat Kolb
                  ein besseres Verständnis des Lebens beigebracht hätten? Was
                  hätte es ihm genützt, wenn er etwas von < Wiederverkörperung
                  >, < Karma > und allen < übersinnlichen Welten
                  > gewußt hätte? Niemand wird doch behaupten wollen, daß
                  die Ideen über planetarische Systeme und höhere Welten den
                  genannten Regierungsrat hätten davor bewahren können, eines
                  Tages sich gestehen zu müssen, < daß es sich mit den
                  unerfreulichsten Kategorien der Nationalökonomie am
                  Studiertische ganz gut hantiere > .» Der
                  geisteswissenschaftlich Gesinnte kann nun wirklich - wie
                  Lessing in einem bestimmten Falle antworten: «Ich
                  bin dieser < Niemand >, ich behaupte es geradezu.» Nur
                  muß man das nicht so verstehen, als ob jemand mit der Lehre
                  von der «Wiederverkörperung», oder dem Wissen vom «Karma»
                  sich sozial richtig betätigen könne. Das wäre natürlich
                  naiv. Die Sache geht selbstverständlich nicht so, daß man
                  diejenigen, welche zu Regierungsräten bestimmt sind, statt
                  sie zu Schmoller, Wagner oder Brentano auf die Universität zu
                  schicken, auf die «Geheimlehre» der Blavatsky verweist. -
                  Worauf es ankommt, ist aber dieses: wird eine nationalökonomische
                  Theorie, welche von einem geisteswissenschaftlich Gesinnten
                  herrührt, eine solche sein, mit der sich am Studiertische gut
                  hantieren läßt, die aber dem wirklichen Leben gegenüber
                  versagt? Und das eben wird sie nicht sein. Wann hält
                  eine Theorie dem Leben gegenüber nicht stand? Wenn sie durch
                  ein Denken hervorgebracht ist, das nicht für das Leben
                  geschult ist. Nun sind aber die Lehren der Geisteswissenschaft
                  ebenso die wirklichen Gesetze des Lebens, wie die Lehren der
                  Elektrizität diejenigen einer Fabrik für elektrische
                  Apparate sind. Wer eine solche Fabrik einrichten will, muß
                  zuerst wahre Elektrizitätslehre sich aneignen. Und wer im
                  Leben wirken will, der muß die Gesetze des Lebens
                  kennenlernen. So fern aber scheinbar die Lehren der
                  Geisteswissenschaft dem Leben stehen, so nahe sind sie ihm in
                  Wahrheit. Dem oberflächlichen Blick erscheinen sie weltfremd;
                  dem wahren Verständnis erschließen sie das Leben. Man zieht
                  sich nicht aus bloßer Neugierde zurück in «geisteswissenschaftliche
                  Zirkel», um da allerlei «interessante» Aufschlüsse über
                  jenseitige Welten zu erhalten, sondern man trainiert da sein
                  Denken, Fühlen und Wollen an den «ewigen Gesetzen des
                  Daseins», um herauszutreten in das Leben, und mit hellem,
                  klarem Blick dieses Leben zu verstehen. Die
                  geisteswissenschaftlichen Lehren sind ein Umweg zu einem lebensvollen
                  Denken, Urteilen und Empfinden. Die geisteswissenschaftliche
                  Bewegung wird erst in ihrem rechten Geleise sein, wenn man das
                  voll einsehen wird. Rechtes Handeln entspringt aus rechtem
                  Denken; und unrechtes Handeln entspringt aus verkehrtem Denken
                  oder aus der Gedankenlosigkeit. Wer überhaupt daran glauben
                  will, daß auf sozialem Gebiete etwas Gutes gewirkt werden
                  kann, der muß zugeben, daß es von den menschlichen Fähigkeiten
                  abhängt, solches Gute zu wirken. Durch die Ideen der
                  Geisteswissenschaft hindurch sich arbeiten, bedeutet
                  Steigerung der Fähigkeiten zu sozialem Wirken. Es handelt
                  sich in dieser Beziehung nicht allein darum, welche Gedanken
                  man durch die Geisteswissenschaft aufnimmt, sondern darum, was
                  man aus seinem Denken durch sie macht. 
                  Gewiß muß zugegeben werden, daß innerhalb
                  der Kreise selbst, die sich der Geisteswissenschaft widmen,
                  noch nicht allzuviel von einer Arbeit gerade in dieser
                  Hinsicht zu merken ist. Und ebensowenig kann geleugnet werden,
                  daß gerade deshalb die der Geisteswissenschaft Fernstehenden
                  noch allen Grund haben, die obigen Behauptungen zu bezweifeln.
                  Aber es darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß die
                  geisteswissenschaftliche Bewegung in gegenwärtiger Auffassung
                  erst im Anfange ihrer Wirksamkeit steht. Ihr weiterer
                  Fortschritt wird darinnen bestehen, daß sie sich einführt in
                  alle praktischen Gebiete des Lebens. Dann wird sich
                  beispielsweise für die «soziale Frage» zeigen, daß an
                  Stelle von Theorien, «mit denen sich am Studiertische ganz
                  gut hantieren» läßt, solche treten werden, welche die
                  Einsicht befähigen, unbefangen das Leben zu
                  beurteilen, und dem Willen die Richtung zu solchem Handeln
                  geben, daß Heil und Segen für die Mitmenschen entspringt.
                  Gar mancher wird sagen, gerade am Falle Kolb zeige es sich, daß
                  der Hinweis auf die Geisteswissenschaft überflüssig sei. Es
                  wäre nur notwendig, daß die Leute, die sich für irgendeinen
                  Beruf vorbereiten, ihre Theorien nicht bloß in der
                  Studierstube lernten, sondern daß sie mit dem Leben
                  zusammengebracht würden, daß sie neben der theoretischen
                  auch eine praktische Anleitung erhielten. Denn sobald Kolb
                  sich das Leben ansah, genügte doch auch das, was er gelernt
                  hatte, um zu einer anderen Meinung zu kommen, als er früher
                  hatte. - Nein, es genügt nicht, weil der Mangel tiefer
                  liegt. Wenn einer sieht, daß er mit einer mangelhaften
                  Vorbildung nur Brücken bauen kann, die einstürzen, so hat er
                  sich damit noch lange nicht die Fähigkeit erworben, solche zu
                  bauen, die nicht einstürzen. Er muß sich zu letzterem erst
                  eine wirklich fruchtbare Vorbildung aneignen. Sicherlich
                  braucht man nichts weiter, als sich die sozialen Verhältnisse
                  nur anzusehen, auch wenn man eine noch so unzulängliche
                  Theorie hat über die Grundgesetze des Lebens, und man wird
                  nicht mehr jedem gegenüber, der nicht arbeitet, sagen: «warum
                  arbeitet der Lump nicht?». Man kann dann aus den Verhältnissen
                  heraus verstehen, warum ein solcher nicht arbeitet. Aber hat
                  man damit schon gelernt, wie die Verhältnisse zum Gedeihen
                  der Menschen zu gestalten sind? Zweifellos haben alle die
                  gutwilligen Menschen, welche ihre Pläne aufgetischt haben über
                  Verbesserung des Menschenloses, nicht geurteilt wie der
                  Regierungsrat Kolb vor seiner Amerikafahrt. Sie waren
                  alle doch wohl auch vor solcher Expedition der Überzeugung,
                  daß nicht jeder, dem es schlecht geht, abzufertigen sei mit
                  der Phrase «warum arbeitet der Lump nicht?». Sind deshalb
                  alle ihre sozialen Reformvorschläge fruchtbar? Nein, das können
                  sie schon deshalb nicht sein, weil sie so vielfach einander
                  widersprechen. Und man wird deshalb ein Recht haben, zu sagen,
                  daß wohl auch des Regierungsrates Kolb positive Reformpläne
                  nach seiner Bekehrung nicht sonderlich viel Wirkung haben können.
                  Das eben ist der Irrtum unserer Zeit in dieser Beziehung, daß
                  sich ein jeder für befähigt hält, das Leben zu verstehen,
                  auch wenn er sich nichts mit den Grundgesetzen des Lebens zu
                  schaffen gemacht hat, wenn er sein Denken nicht erst geschult
                  hat, um die wahren Kräfte des Lebens zu sehen. Und
                  Geisteswissenschaft ist Schulung für eine gesunde Beurteilung
                  des Lebens, weil sie dem Leben auf den Grund geht. Es hilft
                  gar nichts, zu sehen, daß die Verhältnisse den Menschen in
                  ungünstige Lebenslagen bringen, in denen er verkommt: man muß
                  die Kräfte kennen lernen, durch welche günstige Verhältnisse
                  geschaffen werden. Und das können unsere nationalökonomisch
                  Gebildeten aus einem ähnlichen Grund nicht, aus dem keiner
                  rechnen kann, der nichts vom Einmaleins weiß. Stellet einen
                  solchen vor noch so viele Zahlenreihen hin: das Anschauen wird
                  ihm nichts nützen. Stellt den, dessen Denken nichts versteht
                  von den Grundkräften des sozialen Lebens, vor die
                  Wirklichkeit: er mag noch so eindringlich beschreiben, was er
                  sieht; wie sich die sozialen Kräfte verschlingen zum Wohl
                  oder zum Unheil der Menschen, darüber kann er doch nichts
                  ausmachen.
                  In unserer Zeit ist eine Lebensauffassung
                  notwendig, welche zu den wahren Quellen des Lebens hinführt.
                  Und eine solche Lebensauffassung kann die Geisteswissenschaft
                  sein. Wenn alle diejenigen, welche sich eine Meinung bilden
                  wollen über das, was «sozial nottut», zuerst durch die
                  Lebenslehre der Geisteswissenschaft gehen wollten, dann kämen
                  wir weiter. - Der Einwand, daß diejenigen, die sich der
                  Geisteswissenschaft widmen, heute bloß «reden» und nicht «handeln»,
                  kann ebensowenig gelten, wie derjenige, daß sich ja auch die
                  geisteswissenschaftlichen Meinungen noch nicht erprobt haben,
                  sich also vielleicht ebenso als graue Theorie entpuppen könnten,
                  wie die Nationalökonomie des Herrn Kolb. Der erste Einwand
                  bedeutet aus dem Grunde nichts, weil man «handeln»
                  selbstverständlich so lange nicht kann, als einem die Wege
                  zum Handeln versperrt sind. Lasset einen Seelenkenner noch so
                  gut wissen, was ein Vater tun müsse in der Erziehung seiner
                  Kinder; er kann nicht «handeln», wenn ihn der Vater nicht
                  zum Erzieher bestellt. In dieser Beziehung muß in Geduld
                  gewartet werden, bis das «Reden» der geisteswissenschaftlich
                  Arbeitenden denen, welche die Macht zum «Handeln» haben, die
                  Einsicht gebracht hat. Und das wird geschehen. Der andere
                  Einwand ist nicht minder belanglos. Und er kann überhaupt nur
                  von solchen erhoben werden, die unbekannt sind mit dem
                  Grundwesen der geisteswissenschaftlichen Wahrheiten. Wer sie
                  kennt, der weiß, daß sie gar nicht so zustande kommen, wie
                  etwas, das man «ausprobiert». Die Gesetze des Menschenheiles
                  sind nämlich ebenso sicher in die Urgrundlage der
                  Menschenseele gelegt, wie das Einmaleins da hineingelegt ist.
                  Man muß nur tief genug hinuntersteigen in diese Urgrundlage
                  der menschlichen Seele. Gewiß, man kann anschaulich
                  machen, was so eingezeichnet ist in die Seele, wie man
                  anschaulich machen kann, daß zweimal zwei vier ist, wenn man
                  vier Bohnen in zwei Gruppen nebeneinander legt. Aber wer
                  wollte behaupten, daß sich die Wahrheit «Zweimal zwei ist
                  vier» erst an den Bohnen «erproben» muß. Es verhält sich
                  nämlich durchaus so: wer die geisteswissenschaftliche
                  Wahrheit bezweifelt, der hat sie noch nicht erkannt,
                  wie nur ein solcher bezweifeln könnte, daß «zweimal zwei
                  vier ist», der es noch nicht erkannt hat. So sehr sich auch
                  beides unterscheidet, weil das letztere so einfach, das
                  erstere so kompliziert ist: die Ähnlichkeit in anderer
                  Beziehung ist doch vorhanden. Allerdings kann das nicht
                  eingesehen werden, solange man nicht in die
                  Geisteswissenschaft selbst eindringt. Deshalb kann auch für
                  den Nichtkenner der Geisteswissenschaft kein «Beweis» für
                  diese Tatsache erbracht werden. Mann kann nur sagen: lernet
                  die Geisteswissenschaft erst kennen, und ihr werdet auch über
                  all das klar sein. 
                  Der wichtige Beruf der Geisteswissenschaft in
                  unserer Zeit wird sich zeigen, wenn sie ein Sauerteig in allem
                  Leben geworden sein wird. Solange dieser Weg ins Leben noch
                  nicht im vollen Sinne des Wortes betreten werden kann, sind
                  die geisteswissenschaftlich Gesinnten erst im Anfang ihres
                  Wirkens. Und solange werden sie wohl auch den Vorwurf hören müssen,
                  daß ihre Lehren lebensfeindlich seien. Ja, sie sind, wie die
                  Eisenbahn feindlich war einem Leben, das nur die Postkutsche
                  als das «Lebenswahre» anzusehen vermochte. Sie sind so
                  feindlich, wie die Zukunft feindlich der Vergangenheit ist.
                  Im folgenden soll auf einiges Besondere in dem
                  Verhältnis von «Geisteswissenschaft und soziale Frage»
                  eingegangen werden. 
                  Zwei Ansichten stehen einander gegenüber in
                  bezug auf die «soziale Frage». Die eine sieht die Ursachen
                  des Guten und Schlimmen im sozialen Leben mehr in den
                  Menschen, die andere hauptsächlich in den Verhältnissen,
                  innerhalb welcher die Menschen leben. Die Vertreter der
                  ersteren Meinung werden dadurch den Fortschritt fördern
                  wollen, daß sie die geistige und physische Tüchtigkeit der
                  Menschen und ihr moralisches Fühlen zu heben trachten;
                  diejenigen, welche zur zweiten Anschauung neigen, werden
                  dagegen vor allem darauf bedacht sein, die Lebenslage zu
                  heben, denn sie sagen sich, wenn die Menschen auskömmlich
                  leben können, dann wird ihre Tüchtigkeit und ihr sittliches
                  Empfinden von selbst auf einen höheren Stand sich bringen.
                  Man kann wohl kaum leugnen, daß die zweite Ansicht heute
                  stetig an Boden gewinnt. In vielen Kreisen gilt es als der
                  Ausdruck eines ganz rückständigen Denkens, wenn man die
                  erstere Anschauung noch besonders betont. Es wird da gesagt:
                  wer vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit der
                  bittersten Not zu kämpfen hat, der kann zu einer Entwickelung
                  seiner geistigen und moralischen Kräfte nicht kommen. Gebet
                  einem solchen erst Brot, bevor ihr ihm von geistigen
                  Angelegenheiten redet.
                  Insbesondere einem solchen Streben wie dem
                  geisteswissenschaftlichen gegenüber spitzt sich die letztere
                  Behauptung leicht zu einem Vorwurfe zu. Und es sind nicht die
                  Schlechtesten in unserer Zeit, welche dergleichen Vorwürfe
                  erheben. Solche sagen wohl: «Der waschechte Theosoph steigt
                  sehr ungern von den devachanischen und kamischen Ebenen auf
                  diese Erde herab. Man kaut lieber zehn Sanskritworte, ehe man
                  sich darüber unterrichtet, was die Grundrente ist.» So ist
                  zu lesen in einem vor kurzem erschienenen interessanten Buche «Die
                  kulturelle Lage Europas beim Wiedererwachen des modernen
                  Okkultismus» von G. L. Dankmar (Leipzig, Oswald Mutze, 1905). 
                  Naheliegend ist es, den Vorwurf in der
                  folgenden Form zu erheben. Man weist darauf hin, daß in
                  unserer Zeit oftmals Familien von acht Köpfen in einer
                  einzigen Stube zusammengepfercht sind, daß solchen Luft und
                  Licht selbst fehlen, daß sie ihre Kinder zur Schule in einem
                  Zustande schicken müssen, so daß Schwäche und Hunger sie
                  zusammenbrechen lassen. Dann sagt man: müssen diejenigen,
                  welche auf den Massenfortschritt bedacht sind, nicht vor allem
                  ihr ganzes Streben darauf verwenden, in solchen Verhältnissen
                  Abhilfe zu schaffen ? Statt ihr Denken auf die Lehren der höheren
                  Geisteswelten sollten sie es auf die Frage lenken: wie sind
                  die sozialen Notstände zu heben? «Steige die Theosophie aus
                  ihrer eisigen Einsamkeit hinab unter Menschen, unter das Volk;
                  stelle sie im Ernste und in Wahrheit die ethische Forderung
                  der allgemeinen Brüderlichkeit an die Spitze ihres Programms,
                  und handle sie, unbekümmert um alle Konsequenzen, danach;
                  mache sie das Wort Christi von der Nächstenliebe zur sozialen
                  Tat und sie wird köstlich unverlierbares
                  Menschheitseigentum werden und bleiben.» So heißt es in
                  obengenanntem Buche weiter.
                  Diejenigen, welche einen solchen Einwand gegen
                  die Geisteswissenschaft erheben, meinen es gut. Ja, es soll
                  ihnen sogar zugestanden werden, daß sie gegenüber vielen
                  recht haben, die sich mit den geisteswissenschaftlichen Lehren
                  beschäftigen. Zweifellos sind unter den letzeren solche, die
                  nur für ihre eigenen geistigen Bedürfnisse sorgen wollen,
                  die nur etwas wissen wollen über das «höhere Leben», über
                  das Schicksal der Seele nach dem Tode usw. - Und man hat gewiß
                  auch nicht unrecht, wenn man sagt, in der gegenwärtigen Zeit
                  erscheint es nötiger, in gemeinnützigem Wirken, in den
                  Tugenden der Nächstenliebe und Menschenwohlfahrt sich zu
                  entfalten, als in weltfremder Einsamkeit irgendwelche in der
                  Seele schlummernden höheren Fähigkeiten zu pflegen. Die
                  letzteres vor allem wollen, könnten als Menschen von einer
                  verfeinerten Selbstsucht gelten, denen das eigene Seelenwohl
                  über den allgemeinen menschlichen Tugenden steht. - Nicht
                  minder kann man hören, wie darauf hingewiesen wird, daß für
                  ein geistiges Streben, wie es das geisteswissenschaftliche
                  ist, doch nur Menschen Interesse haben können, denen es «gut
                  geht», und welche daher ihre «müßige Zeit» solchen Dingen
                  widmen können. Wer aber vom Morgen bis zum Abend für elenden
                  Lohn seine Hände rühren muß, den soll man nicht abspeisen
                  wollen mit Redensarten von allgemeiner Menscheneinheit, von «höherem
                  Leben» und ähnlichen Dingen. 
                  Gewiß ist, daß in der angedeuteten Richtung
                  auch von geisteswissenschaftlich Strebenden mancherlei gesündigt
                  wird. Aber nicht minder richtig ist, daß gut verstandenes
                  geisteswissenschaftliches Leben den Menschen auch als
                  Einzelnen zu den Tugenden der opferwilligen Arbeit und des
                  gemeinnützigen Wirkens führen muß. Jedenfalls wird die
                  Geisteswissenschaft niemand hindern können, ein ebenso
                  guter Mensch zu sein wie andere es sind, die nichts von
                  Geisteswissenschaft wissen oder wissen wollen. - Aber das
                  alles berührt ja in bezug auf die «soziale Frage» gar nicht
                  die Hauptsache. Um zu dieser Hauptsache vorzudringen, ist eben
                  durchaus mehr notwendig, als die Gegner des
                  geisteswissenschaftlichen Strebens zugeben wollen. Ohne
                  weiteres soll diesen Gegner ja zugestanden werden, daß mit
                  den Mitteln, welche von mancher Seite zur Verbesserung der
                  sozialen Menschenlage vorgeschlagen werden, viel zu
                  erreichen ist. Die eine Partei will das, die andere jenes.
                  Mancherlei von solchen Parteiforderungen erweist sich dem klar
                  Denkenden bald als Hirngespinst; manches aber enthält gewiß
                  auch den allerbesten Kern.
                  Owen, der 1771 bis 1858 lebte, gewiß einer der
                  edelsten Sozialreformatoren, hat immer wieder und wieder
                  betont, daß der Mensch durch die Umgebung bestimmt werde, in
                  welcher er aufwächst, daß des Menschen Charakter nicht durch
                  ihn selbst gebildet werde, sondern durch die Lebensverhältnisse,
                  in denen er gedeiht. Durchaus soll nicht das blendend Richtige
                  bestritten werden, das solche Sätze haben. Und noch weniger
                  sollen sie mit geringschätzigem Achselzucken behandelt
                  werden, obgleich sie mehr oder weniger selbstverständlich
                  sind. Vielmehr soll ohne weiteres zugestanden werden, daß
                  vieles besser werden kann, wenn man im öffentlichen Leben
                  sich nach solchen Erkenntnissen richtet. Deshalb wird aber
                  auch die Geisteswissenschaft niemand hindern, sich an
                  denjenigen Werken des Menschenfortschrittes zu beteiligen, die
                  im Sinne solcher Erkenntnisse ein besseres Los der gedrückten
                  und notleidenden Menschheitsklassen herbeiführen wollen. 
                  Nur muß die Geisteswissenschaft tiefer
                  gehen. Ein durchgreifender Fortschritt kann nämlich
                  durch alle solche Mittel nimmermehr bewirkt werden. Wer das
                  nicht zugibt, der hat sich niemals klar gemacht, woher die
                  Lebensverhältnisse kommen, innerhalb welcher die Menschen
                  sich befinden. So weit nämlich des Menschen Leben von diesen
                  Verhältnissen abhängig ist, sind diese selbst von Menschen
                  bewirkt. Oder wer hat denn die Einrichtungen getroffen, durch
                  die der eine arm, der andere reich ist? Doch andere Menschen.
                  Das ändert doch wahrlich nichts an dieser Sachlage, daß
                  diese «anderen Menschen» zumeist vor denen gelebt
                  haben, die unter den Verhältnissen gedeihen oder nicht
                  gedeihen. Die Leiden, die dem Menschen die Natur selbst
                  auferlegt, kommen für die soziale Lage doch nur
                  mittelbar in Betracht. Diese Leiden müssen eben durch
                  das menschliche Handeln gelindert, oder ganz beseitigt werden.
                  Geschieht das nicht, was in dieser Richtung notwendig ist, so
                  fehlt es also doch nur an den menschlichen Einrichtungen. -
                  Ein gründliches Erkennen der Dinge lehrt, daß alle Übel,
                  von denen mit Recht als von sozialen gesprochen werden kann,
                  auch von den menschlichen Taten herrühren. Gewiß ist in
                  dieser Beziehung nicht der einzelne Mensch, sicher aber die
                  ganze Menschheit der «Schmied des eigenen Glückes».
                  So gewiß aber dieses ist, so wahr ist
                  auch, daß in größerem Umfange kein beträchtlicher Teil der
                  Menschheit, keine Kaste oder Klasse das Leid eines anderen
                  Teiles in böswilliger Absicht bewirkt. Alles, was in dieser
                  Richtung behauptet wird, beruht auf bloßem Mangel an
                  Einsicht. Trotzdem auch dies eigentlich eine selbstverständliche
                  Wahrheit ist, muß sie doch ausgesprochen werden. Denn wenn
                  auch solche Dinge mit dem Verstande leicht durchschaut werden,
                  so verhält man sich doch im praktischen Leben nicht in ihrem
                  Sinne. Jedem Ausbeuter seiner Mitmenschen wäre natürlich das
                  liebste, wenn die Opfer seiner Ausbeutung nicht zu
                  leiden hätten. Man käme weit, wenn man das nicht bloß
                  selbstverständlich fände, sondern auch seine Empfindungen
                  und Gefühle darnach einrichtete. 
                  Ja, aber was soll man mit solchen Behauptungen
                  anfangen? So wird zweifellos mancher «sozial Denkende»
                  einwenden. Soll etwa gar der Ausgebeutete dem Ausbeuter mit
                  wohlwollenden Gefühlen gegenüberstehen ? Ist es nicht zu
                  begreiflich, wenn der erstere den letzteren haßt und aus dem
                  Hasse heraus zu seiner Parteistellung geführt wird? Es wäre
                  doch wahrlich ein schlechtes Rezept - so wird man weiter
                  einwenden -, wenn der Bedrückte dem Bedrücker gegenüber an
                  die Menschenliebe gemahnt würde, etwa im Sinne des Satzes vom
                  großen Buddha: «Haß wird nicht durch Haß, sondern allein
                  durch Liebe überwunden.»
                  Dennoch führt die Erkenntnis, die an diesen
                  Punkt anknüpft, allein in der gegenwärtigen Zeit zu einem
                  wirklichen «sozialen Denken». Und hier ist es eben, wo
                  geisteswissenschaftliche Gesinnung einsetzt. Diese kann nämlich
                  nicht an der Oberfläche des Verständnisses haften, sondern
                  muß in die Tiefe dringen. Deshalb kann sie nicht dabei stehen
                  bleiben, zu zeigen, daß durch diese oder jene Verhältnisse
                  Elend geschaffen wird, sondern sie muß zu der allein
                  fruchtbaren Erkenntnis vordringen, wodurch diese Verhältnisse
                  geschaffen worden sind und noch fortwährend geschaffen
                  werden. Und gegenüber diesen tieferen Fragen erweisen sich
                  die meisten sozialen Theorien eben nur als «graue Theorien»,
                  wenn nicht gar als bloße Redensarten. 
                  Solange man mit seinem Denken an der Oberfläche
                  bleibt, solange schreibt man den Verhältnissen, überhaupt
                  dem Äußerlichen eine ganz falsche Macht zu. Diese Verhältnisse
                  sind nämlich nur der Ausdruck eines inneren Lebens.
                  Und so wie nur derjenige den menschlichen Körper versteht,
                  der weiß, daß dieser der Ausdruck der Seele ist, so kann
                  auch nur derjenige die äußeren Einrichtungen im Leben
                  richtig beurteilen, der sich klar macht, daß diese nichts
                  anderes sind als das Geschöpf der Menschenseelen, die ihre
                  Empfindungen, Gesinnungen und Gedanken darin verkörpern. Die
                  Verhältnisse, in denen man lebt, sind von den Mitmenschen
                  geschaffen; und man wird niemals selbst bessere schaffen, wenn
                  man nicht von anderen Gedanken, Gesinnungen und Empfindungen
                  ausgeht, als jene Schöpfer hatten.
                  Man betrachte solche Dinge im einzelnen. Äußerlich
                  wird leicht derjenige als Bedrücker erscheinen, der einen
                  prunkvollen Haushalt führen, in der Eisenbahn die erste
                  Klasse benützen kann usw. Und als der Bedrückte wird
                  erscheinen, wer einen schlechten Rock tragen und vierter
                  Klasse fahren muß. Man braucht aber kein mitleidloses
                  Individuum, auch kein Reaktionär oder dergleichen zu sein, um
                  mit klarem Denken doch das folgende zu verstehen. Niemand wird
                  dadurch bedrückt und ausgebeutet, daß ich diesen oder jenen
                  Rock trage, sondern allein dadurch, daß ich den Arbeiter, der
                  für mich den Rock anfertigt, zu wenig entlohne. Der arme
                  Arbeiter, der sich seinen schlechten Rock für weniges Geld
                  erwirbt, ist nun gegenüber seinem Mitmenschen in dieser
                  Beziehung in genau der gleichen Lage wie der Reiche, der
                  sich den besseren Rock machen läßt. Ob ich arm bin oder
                  reich: ich beute aus, wenn ich Dinge erwerbe, die nicht genügend
                  bezahlt werden. Eigentlich dürfte heute keiner irgendeinen
                  andern einen Bedrücker nennen, denn er sehe sich nur einmal
                  selbst an. Tut er das letztere genau, so wird er in sich bald
                  auch den «Bedrücker» entdecken. Wird denn die Arbeit, die
                  du an den Wohlhabenden liefern mußt, nur an diesen zu
                  dem schlechten Lohn geliefert? Nein, derjenige, der neben dir
                  sitzt, und mit dir über Bedrückung klagt, verschafft sich
                  deiner Hände Arbeit zu genau den gleichen Bedingungen wie der
                  Wohlhabende, gegen den ihr euch beide wendet. Man denke das
                  einmal durch, und man wird andere Anhaltspunkte zu «sozialem
                  Denken» finden, als die gebräuchlichen sind. 
                  Man wird vor allem durch ein in dieser Richtung
                  gehendes Nachdenken darüber klar werden, daß man die
                  Begriffe «Reich» und «Ausbeuter» vollkommen trennen muß.
                  Ob man heute reich oder arm ist, das hängt von der persönlichen
                  Tüchtigkeit oder von derjenigen seiner Vorfahren ab, oder von
                  ganz anderen Dingen. Daß man Ausbeuter der Arbeitskraft
                  anderer ist, das aber hat gar nichts mit diesen Dingen
                  zu tun. Wenigstens nicht unmittelbar. Aber mit anderem hat es
                  sehr viel zu tun. Nämlich damit, daß unsere Einrichtungen
                  oder die uns umgebenden Verhältnisse auf den persönlichen
                  Eigennutz aufgebaut sind. Man muß darüber ganz klar
                  denken, sonst wird man zu der verkehrtesten Auffassung dessen
                  kommen, was gesagt wird. Wenn ich heute einen Rock erwerbe, so
                  erscheint es, nach den bestehenden Verhältnissen, ganz natürlich,
                  daß ich ihn so billig wie nur möglich erwerbe. Das heißt:
                  ich habe dabei nur mich im Auge. Damit ist aber der
                  Gesichtspunkt angedeutet, welcher unser ganzes Leben
                  beherrscht. Nun wird man leicht mit einem Einwande zur Stelle
                  sein können. Man kann sagen: bestreben sich denn nicht eben
                  die sozial denkenden Parteien und Persönlichkeiten, diesem Übel
                  abzuhelfen? Bemüht man sich nicht, die «Arbeit» zu schützen?
                  Fordern nicht die arbeitenden Klassen und ihre Vertreter,
                  Lohnverbesserungen und Arbeitszeiteinschränkungen? Schon oben
                  ist gesagt worden, daß von dem Standpunkte der Gegenwart auch
                  nicht das geringste gegen solche Forderungen und Maßnahmen
                  einwendet werden soll. Natürlich soll damit auch nicht
                  irgendeiner der bestehenden Parteiforderungen das Wort geredet
                  werden. Im einzelnen kommt von dem Gesichtspunkte aus, um den
                  es sich hier handelt, keine Parteinahme, weder «für» noch «gegen»
                  in Betracht. Solches liegt zunächst ganz außerhalb der
                  geisteswissenschaftlichen Betrachtungsweise .
                  Man mag noch so viele Verbesserungen zum
                  Schutze irgendeiner Arbeitsklasse einführen, und damit gewiß
                  viel zur Hebung der Lebenslage dieser oder jener
                  Menschengruppe beitragen: Das Wesen der Ausbeutung wird
                  dadurch nicht gemildert. Denn dieses hängt davon ab, daß ein
                  Mensch unter dem Gesichtspunkt des Eigennutzes sich die
                  Arbeitsprodukte des anderen erwirbt. Ob ich viel oder wenig
                  habe: bediene ich mich dessen, was ich habe, zur Befriedigung
                  meines Eigennutzes, so muß dadurch der andere
                  ausgebeutet werden. Selbst wenn ich bei Aufrechterhaltung
                  dieses Gesichtspunktes seine Arbeit schütze, so ist damit nur
                  scheinbar etwas getan. Bezahle ich die Arbeit des anderen
                  teurer, so muß er dafür auch die meine teurer bezahlen, wenn
                  nicht durch die Besserstellung des einen die
                  Schlechterstellung des anderen bewirkt werden soll. 
                  Ein anderes Beispiel soll zur Erläuterung hier
                  angeführt werden. Wenn ich eine Fabrik kaufe, um durch
                  dieselbe möglichst viel für mich zu erwerben, so werde ich
                  sehen, die Arbeitskräfte so billig wie nur möglich zu
                  erhalten usw. Alles, was geschieht, wird unter dem
                  Gesichtspunkt des persönlichen Eigennutzes stehen. - Kaufe
                  ich dagegen die Fabrik mit dem Gesichtspunkte, zweihundert
                  Menschen möglichst gut zu versorgen, so werden alle meine Maßnahmen
                  eine andere Färbung annehmen. - Praktisch wird sich heute
                  gewiß der zweite Fall von dem ersten nicht gerade viel
                  unterscheiden können. Das hängt aber lediglich daran, daß
                  der einzelne Selbstlose nicht allzu viel vermag
                  innerhalb einer Gemeinschaft, die im übrigen auf den
                  Eigennutz aufgebaut ist. Ganz anders aber würde sich die
                  Sache stellen, wenn die uneigennützige Arbeit eine allgemeine
                  wäre.
                  Ein «praktisch» Denkender wird natürlich
                  meinen, daß durch die bloße «gute Gesinnung» sich doch
                  niemand die Möglichkeit verschaffen könne, seinen Arbeitern
                  zu besseren Lohnverhältnissen zu verhelfen Denn man steigere
                  doch durch Wohlwollen nicht das Erträgnis für seine Waren,
                  und ohne das könne man auch für den Arbeiter keine besseren
                  Bedingungen schaffen. - Und gerade darauf kommt es an,
                  einzusehen, daß dieser Einwand ein vollkommener Irrtum ist.
                  Alle Interessen und damit alle Lebensverhältnisse ändern
                  sich, wenn man bei der Erwerbung einer Sache nicht mehr sich,
                  sondern die anderen im Auge hat. Auf was muß jemand
                  sehen, der nur seinem Eigenwohle dienen kann? Doch darauf, daß
                  er möglichst viel erwerbe. Wie die anderen arbeiten müssen,
                  um seine Bedürfnisse zu befriedigen, darauf kann er
                  keine Rücksicht nehmen. Er muß also dadurch seine Kräfte im
                  Kampfe ums Dasein entfalten. Begründe ich eine
                  Unternehmung, die mir möglichst viel einbringen soll,
                  so frage ich nicht, auf welche Art die Arbeitskräfte in
                  Bewegung gesetzt werden, die für mich arbeiten. Komme ich
                  aber gar nicht in Frage, sondern nur der Gesichtspunkt: wie
                  dient meine Arbeit den anderen? so ändert sich alles. Nichts
                  nötigt mich dann, irgend etwas zu unternehmen, was einem
                  anderen abträglich sein kann Ich stelle dann meine Kräfte
                  nicht in meinen Dienst, sondern in den der anderen. Und das
                  hat eine ganz andere Entfaltung der Kräfte und Fähigkeiten
                  der Menschen zur Folge. Wie das die Lebensverhältnisse praktisch
                  ändert, davon im Schluß des Aufsatzes. 
                  Robert Owen darf in einem gewissen Sinne als
                  ein Genie der praktischen sozialen Wirksamkeit bezeichnet
                  werden. Zwei Eigenschaften waren bei ihm vorhanden, welche
                  diese Bezeichnung wohl rechtfertigen mögen: ein umsichtiger
                  Blick für sozialnützliche Einrichtungen und eine edle
                  Menschenliebe. Man braucht nur zu betrachten, was er durch
                  diese beiden Fähigkeiten zustande gebracht hat, um deren
                  ganze Bedeutung richtig zu würdigen. Er schuf in New Lanark
                  mustervolle industrielle Einrichtungen, und beschäftigte die
                  Arbeiter dabei in einer Weise, daß sie nicht nur ein
                  menschenwürdiges Dasein in materieller Beziehung hatten,
                  sondern daß sie auch innerhalb moralisch befriedigender Verhältnisse
                  lebten. Die Personen, welche da zusammengebracht wurden, waren
                  zum Teil herabgekommen, dem Trunk ergeben. Er stellte bessere
                  Elemente zwischen solche ein, die durch ihr Beispiel auf die
                  andern wirkten. Und so wurden die denkbar günstigsten
                  Ergebnisse zustande gebracht. Was Owen da gelang, macht es unmöglich,
                  ihn mit anderen mehr oder weniger phantastischen «Weltverbesserern»
                  sogenannten Utopisten - auf eine Stufe zu stellen Er hielt
                  sich eben im Rahmen praktisch ausführbarer Einrichtungen, von
                  denen auch jeder aller Träumerei abgeneigte Mensch
                  voraussetzen kann, daß sie zunächst auf einem gewissen
                  beschränkten Gebiete das menschliche Elend aus der Welt
                  schaffen würden. Auch ist es nicht unpraktisch gedacht, wenn
                  man den Glauben hegt, daß solch ein kleines Gebiet als Muster
                  wirken und von ihm allmählich eine gesunde Entwickelung des
                  Menschenloses in sozialer Richtung angeregt werden könnte.
                  Owen selbst dachte wohl so. Deshalb wagte er
                  sich auf der betretenen Bahn noch einen weiteren Schritt vorwärts.
                  Im Jahre 1824 ging er daran, im Gebiete Indiana in Nordamerika
                  eine Art kleinen Musterstaates zu schaffen. Er erwarb ein
                  Landgebiet, auf dem er eine auf Freiheit und Gleichheit
                  gebaute menschliche Gemeinschaft begründen wollte Alle
                  Einrichtungen wurden so getroffen, daß Ausbeutung und
                  Knechtung Unmöglichkeit waren Wer an eine solche Aufgabe
                  herantritt, muß die schönsten sozialen Tugenden mitbringen:
                  die Sehnsucht, seine Mitmenschen glücklich zu machen, und den
                  Glauben an die Güte der Menschennatur. Er muß der Ansicht
                  sein, daß sich ganz von selbst innerhalb dieser Menschennatur
                  die Lust zu arbeiten entwickeln werde, wenn der Segen dieser
                  Arbeit durch entsprechende Einrichtungen gesichert erscheint. 
                  In Owen war dieser Glaube so stark vorhanden,
                  daß es schon recht schlimme Erfahrungen sein mußten, die ihn
                  in demselben wankend werden ließen
                  Und - diese schlimmen Erfahrungen traten
                  wirklich ein. Owen mußte nach langen edlen Bemühungen zu dem
                  Bekenntnis kommen, daß «man mit der Verwirklichung solcher
                  Kolonien stets scheitern müsse, wenn man nicht vorher die
                  allgemeine Sitte umgewandelt; und daß es mehr wert wäre, auf
                  die Menschheit auf dem theoretischen Wege einzuwirken, als auf
                  dem der Praxis». - Zu solcher Meinung ist dieser
                  Sozialreformer durch die Tatsache gedrängt worden, daß sich
                  Arbeitsunlustige genug fanden, welche die Arbeit auf ihre
                  Mitmenschen abladen wollten, wodurch Streit, Kampf und zuletzt
                  der Bankerott der Kolonie folgen mußten. 
                  Owens Erfahrung kann lehrreich sein für alle,
                  die wirklich lernen wollen. Sie kann hinüberleiten von allen
                  künstlich geschaffenen und künstlich ausgedachten
                  Einrichtungen zum Heile der Menschheit zu fruchtbarer, mit der
                  wahren Wirklichkeit rechnenden sozialen Arbeit.
                  Gründlich geheilt konnte Owen sein durch seine
                  Erfahrung von dem Glauben, daß alles Menschenelend nur
                  bewirkt werde durch die «schlechten Einrichtungen», in denen
                  die Menschen leben, und daß die Güte der Menschennatur schon
                  von selbst zutage treten werde, wenn man diese Einrichtungen
                  verbessert. Er mußte sich davon überzeugen, daß gute
                  Einrichtungen überhaupt nur aufrecht zu erhalten sind, wenn
                  die daran beteiligten Menschen ihrer inneren Natur nach dazu
                  geneigt sind, sie zu erhalten, wenn diese mit warmem Anteile
                  an ihnen hängen. 
                  Man könnte nun zunächst daran denken, es sei
                  notwendig, die Menschen, denen man solche Einrichtungen
                  verschaffen will, theoretisch darauf vorzubereiten. Etwa
                  dadurch, daß man ihnen das Richtige und Zweckentsprechende
                  der Maßnahmen klar machte. Es liegt für einen Unbefangenen
                  gar nicht so ferne, aus Owens Bekenntnis so etwas
                  herauszulesen. Und dennoch kann man zu einem wirklich
                  praktischen Ergebnis nur dadurch gelangen, daß man tiefer in
                  die Sache eindringt. Man muß von dem bloßen Glauben an die Güte
                  der Menschennatur, der Owen getäuscht hat, zu wirklicher Menschenkenntnis
                  vorschreiten. - Alle Klarheit, welche die Menschen jemals darüber
                  sich aneignen könnten, daß irgendwelche Einrichtungen zweckmäßig
                  sind und der Menschheit zum Segen gereichen können - alle
                  solche Klarheit kann auf die Dauer nicht zum gewünschten
                  Ziele führen. Denn durch solch eine klare Einsicht wird der
                  Mensch nicht die inneren Antriebe zur Arbeit gewinnen können,
                  wenn auf der anderen Seite sich bei ihm die im Egoismus begründeten
                  Triebe geltend machen. Dieser Egoismus ist einmal zunächst
                  ein Teil der Menschennatur. Und das führt dazu, daß er sich
                  im Gefühl des Menschen regt, wenn dieser innerhalb der
                  Gesellschaft mit anderen zusammen leben und arbeiten soll. Mit
                  einer gewissen Notwendigkeit führt dies dazu, daß in der
                  Praxis die meisten eine solche gesellschaftliche Einrichtung für
                  die beste halten werden, durch welche der einzelne seine Bedürfnisse
                  am besten befriedigen kann. So bildet sich unter dem Einfluß
                  der egoistischen Gefühle ganz naturgemäß die soziale Frage
                  in der Form heraus: welche gesellschaftlichen Einrichtungen müssen
                  getroffen werden, damit ein jeder für sich das Erträgnis
                  seiner Arbeit haben kann? Und besonders in unserer
                  materialistisch denkenden Zeit rechnen nur wenige mit einer
                  anderen Voraussetzung. Wie oft kann man es wie eine
                  selbstverständliche Wahrheit aussprechen hören, daß eine
                  soziale Ordnung ein Unding sei, welche auf Wohlwollen und
                  Menschenmitgefühl sich aufbauen will. Man rechnet vielmehr
                  damit, daß das Ganze einer menschlichen Gemeinschaft am
                  besten gedeihen könne, wenn der einzelne den «vollen» oder
                  den größtmöglichen Ertrag seiner Arbeit auch einheimsen
                  kann.
                  Genau das Gegenteil davon lehrt nun der
                  Okkultismus, der auf eine tiefere Erkenntnis des Menschen und
                  der Welt begründet ist. Er zeigt gerade, daß alles
                  menschliche Elend lediglich eine Folge des Egoismus ist, und
                  daß in einer Menschengemeinschaft ganz notwendig zu
                  irgendeiner Zeit Elend, Armut und Not sich einstellen müssen,
                  wenn diese Gemeinschaft in irgendeiner Art auf dem Egoismus
                  beruht. Um das einzusehen, dazu gehören allerdings tiefere
                  Erkenntnisse, als es diejenigen sind, welche da und dort unter
                  der Flagge der sozialen Wissenschaft segeln. Diese «soziale
                  Wissenschaft» rechnet eben nur mit der Außenseite des
                  Menschenlebens, nicht aber mit den tiefer liegenden Kräften
                  desselben. Ja, es ist sogar sehr schwierig, bei der Mehrzahl
                  der gegenwärtigen Menschen in ihnen auch nur ein Gefühl
                  davon zu erwecken, daß von solchen tiefer liegenden Kräften
                  die Rede sein könne. Sie betrachten denjenigen als einen
                  unpraktischen Phantasten, der ihnen mit solchen Dingen
                  irgendwie kommt. Nun kann aber auch hier gar nicht einmal der
                  Versuch gemacht werden, eine auf tiefer liegende Kräfte
                  gebaute soziale Theorie zu entwickeln. Denn dazu wäre ein
                  ausführliches Werk nötig. Nur eines kann geleistet werden:
                  auf die wahren Gesetze des menschlichen Zusammenarbeitens kann
                  hingewiesen und gezeigt werden, welche vernünftigen sozialen
                  Erwägungen sich für den Kenner dieser Gesetze ergeben. Das
                  volle Verständnis der Sache kann nur derjenige gewinnen,
                  welcher sich eine auf den Okkultismus begründete
                  Weltauffassung erwirbt. Und auf die Vermittlung einer solchen
                  Weltauffassung arbeitet ja diese ganze Zeitschrift hin. Man
                  kann sie nicht von einem einzelnen Aufsatz über die «soziale
                  Frage» erwarten. Alles, was dieser sich zur Aufgabe machen
                  kann, ist, vom okkulten Standpunkte aus ein Schlaglicht zu
                  werfen auf diese Frage. Es wird ja immerhin Personen geben,
                  welche das gefühlsmäßig in seiner Richtigkeit erkennen, was
                  in aller Kürze vorgebracht werden soll, und welches unmöglich
                  in aller Ausführlichkeit dargelegt werden kann. 
                  Nun, das soziale Hauptgesetz, welches durch den
                  Okkultismus aufgewiesen wird, ist das folgende: «Das
                  Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um
                  so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner
                  Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von
                  diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr
                  seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen,
                  sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.»
                  Alle Einrichtungen innerhalb einer Gesamtheit von Menschen,
                  welche diesem Gesetz widersprechen, müssen bei längerer
                  Dauer irgendwo Elend und Not erzeugen - Dieses Hauptgesetz
                  gilt für das soziale Leben mit einer solchen Ausschließlichkeit
                  und Notwendigkeit, wie nur irgendein Naturgesetz in bezug auf
                  irgendein gewisses Gebiet von Naturwirkungen gilt. Man darf
                  aber nicht denken, daß es genüge, wenn man dieses Gesetz als
                  ein allgemeines moralisches gelten läßt oder es etwa in die
                  Gesinnung umsetzen wollte, daß ein jeder im Dienste seiner
                  Mitmenschen arbeite. Nein, in der Wirklichkeit lebt das Gesetz
                  nur so, wie es leben soll, wenn es einer Gesamtheit von
                  Menschen gelingt, solche Einrichtungen zu schaffen, daß
                  niemals jemand die Früchte seiner eigenen Arbeit für sich
                  selber in Anspruch nehmen kann, sondern doch diese möglichst
                  ohne Rest der Gesamtheit zugute kommen. Er selbst muß dafür
                  wiederum durch die Arbeit seiner Mitmenschen erhalten werden.
                  Worauf es also ankommt, das ist, daß für die Mitmenschen
                  arbeiten und ein gewisses Einkommen erzielen zwei voneinander
                  ganz getrennte Dinge seien.
                  Diejenigen, welche sich einbilden, «praktische
                  Menschen» zu sein, werden - darüber gibt sich der Okkultist
                  keiner Täuschung hin - über diesen «haarsträubenden
                  Idealismus» nur ein Lächeln haben. Und dennoch ist das obige
                  Gesetz praktischer als nur irgendein anderes, das jemals von «Praktikern»
                  ausgedacht oder in die Wirklichkeit eingeführt worden ist.
                  Wer nämlich das Leben wirklich untersucht, der kann finden,
                  daß eine jede Menschengemeinschaft, die irgendwo existiert,
                  oder die nur jemals existiert hat, zweierlei Einrichtungen
                  hat. Der eine dieser beiden Teile entspricht diesem Gesetze,
                  der andere widerspricht ihm. So muß es nämlich überall
                  kommen, ganz gleichgültig, ob die Menschen wollen oder nicht.
                  Jede Gesamtheit zerfiele nämlich sofort, wenn nicht die
                  Arbeit der einzelnen dem Ganzen zufließen würde. Aber der
                  menschliche Egoismus hat auch von jeher dieses Gesetz
                  durchkreuzt. Er hat für den einzelnen möglichst viel aus
                  seiner Arbeit herauszuschlagen gesucht. Und nur dasjenige, was
                  auf diese Art aus dem Egoismus hervorgegangen ist, hat von
                  jeher Not, Armut und Elend zur Folge gehabt. Das heißt aber
                  doch nichts anderes, als daß immer derjenige Teil der
                  menschlichen Einrichtungen sich als unpraktisch erweisen muß,
                  der von den «Praktikern» auf die Art zustande gebracht wird,
                  daß dabei entweder mit dem eigenen oder dem fremden Egoismus
                  gerechnet wird. 
                  Nun kann es sich aber natürlich nicht bloß
                  darum handeln, daß man ein solches Gesetz einsieht, sondern
                  die wirkliche Praxis beginnt mit der Frage: wie kann man es in
                  die Wirklichkeit umsetzen? Es ist klar, daß dieses Gesetz
                  nichts Geringeres besagt als dieses: Die Menschenwohlfahrt ist
                  um so größer, je geringer der Egoismus ist. Man ist also bei
                  der Umsetzung in die Wirklichkeit darauf angewiesen, daß man
                  es mit Menschen zu tun habe, die den Weg aus dem Egoismus
                  herausfinden. Das ist aber praktisch ganz unmöglich, wenn das
                  Maß von Wohl und Wehe des einzelnen sich nach seiner Arbeit
                  bestimmt. Wer für sich arbeitet, muß allmählich
                  dem Egoismus verfallen. Nur wer ganz für die anderen
                  arbeitet, kann nach und nach ein unegoistischer Arbeiter
                  werden.
                  Dazu ist aber eine Voraussetzung notwendig.
                  Wenn ein Mensch für einen anderen arbeitet, dann muß er in
                  diesem anderen den Grund zu seiner Arbeit finden; und wenn
                  jemand für die Gesamtheit arbeiten soll, dann muß er den
                  Wert, die Wesenheit und Bedeutung dieser Gesamtheit empfinden
                  und fühlen. Das kann er nur dann, wenn die Gesamtheit noch
                  etwas ganz anderes ist als eine mehr oder weniger unbestimmte
                  Summe von einzelnen Menschen. Sie muß von einem wirklichen
                  Geiste erfüllt sein, an dem ein jeder Anteil nimmt. Sie muß
                  so sein, daß ein jeder sich sagt: sie ist richtig, und ich will,
                  daß sie so ist. Die Gesamtheit muß eine geistige Mission
                  haben; und jeder einzelne muß beitragen wollen, daß diese
                  Mission erfüllt werde. All die unbestimmten, abstrakten
                  Fortschrittsideen, von denen man gewöhnlich redet, können
                  eine solche Mission nicht darstellen. Wenn nur sie herrschen,
                  so wird ein einzelner da, oder eine Gruppe dort arbeiten, ohne
                  daß diese übersehen, wozu sonst ihre Arbeit etwas nütze
                  ist, als daß sie und die Ihrigen, oder etwa noch die
                  Interessen, an denen gerade sie hängen, dabei ihre Rechnung
                  finden - Bis in den einzelsten herunter muß dieser Geist der
                  Gesamtheit lebendig sein. 
                  Gutes ist von jeher nur dort gediehen, wo in
                  irgendeiner Art ein solches Leben des Gesamtgeistes erfüllt
                  war. Der einzelne Bürger einer griechischen Stadt des
                  Altertums, ja auch derjenige einer freien Stadt im Mittelalter
                  hatte so etwas wie wenigstens ein dunkles Gefühl von einem
                  solchen Gesamtgeist. Es ist kein Einwand dagegen, daß zum
                  Beispiel die entsprechenden Einrichtungen im alten
                  Griechenland nur möglich waren, weil man ein Heer von Sklaven
                  hatte, welche für die «freien Bürger» die Arbeit
                  verrichteten und die dazu nicht von dem Gesamtgeist, sondern
                  durch den Zwang ihrer Herren getrieben worden sind. - An
                  diesem Beispiele kann man nur das eine lernen, daß das
                  Menschenleben der Entwicklung unterliegt. Gegenwärtig ist die
                  Menschheit eben auf einer Stufe angelangt, wo eine solche Lösung
                  der Gesellschaftsfrage, wie sie im alten Griechenland
                  herrschte, unmöglich ist. Selbst den edelsten Griechen galt
                  die Sklaverei nicht als ein Unrecht, sondern als eine
                  menschliche Notwendigkeit. Deshalb konnte zum Beispiel der große
                  Plato ein Staatsideal aufstellen, in dem der Gesamtgeist
                  dadurch in Erfüllung geht, daß die Mehrzahl der
                  Arbeitsmenschen von den wenigen Einsichtsvollen zur Arbeit
                  gezwungen werde. Die Aufgabe der Gegenwart aber ist, die
                  Menschen in eine solche Lage zu bringen, daß ein jeder aus
                  seinem innersten Antriebe heraus die Arbeit für die
                  Gesamtheit leistet.
                  Deshalb soll niemand daran denken, eine für
                  alle Zeiten gültige Lösung der sozialen Frage zu suchen,
                  sondern lediglich daran, wie sich sein soziales Denken und
                  Wirken mit Rücksicht auf die unmittelbaren Bedürfnisse der
                  Gegenwart gestalten muß, in welcher er lebt. - Es kann überhaupt
                  kein einzelner heute irgend etwas theoretisch ausdenken oder
                  in die Wirklichkeit umsetzen, was als solches die soziale
                  Frage lösen könnte. Dazu müßte er die Macht haben, eine
                  Anzahl von Menschen in die von ihm geschaffenen Verhältnisse
                  hineinzuzwingen. Es kann ja gar kein Zweifel darüber
                  bestehen: hätte Owen die Macht oder den Willen gehabt, all
                  die Menschen seiner Kolonie zu der ihnen zukommenden Arbeit zu
                  zwingen, dann hätte die Sache gehen müssen. Aber um solchen
                  Zwang kann es sich gerade in der Gegenwart nicht handeln. Es
                  muß die Möglichkeit herbeigeführt werden, daß ein jeder
                  freiwillig tut, wozu er berufen ist nach dem Maß seiner Fähigkeiten
                  und Kräfte. Aber gerade deshalb kann es sich nie und nimmer
                  darum handeln, daß im Sinne des oben angeführten Owenschen
                  Bekenntnisses so auf die Menschen «im theoretischen Sinne»
                  einzuwirken sei, daß ihnen eine bloße Ansicht darüber
                  vermittelt werde, wie sich die ökonomischen Verhältnisse am
                  besten einrichten lassen. Eine nüchterne ökonomische Theorie
                  kann niemals ein Antrieb gegen die egoistischen Mächte sein.
                  Eine Zeitlang vermag eine solche ökonomische Theorie den
                  Massen einen gewissen Schwung zu verleihen, der dem Scheine
                  nach einem Idealismus ähnlich ist. Auf die Dauer aber
                  kann eine solche Theorie niemandem nützen. Wer einer
                  Menschenmasse eine solche Theorie einimpft, ohne ihr etwas
                  anderes wirklich Geistiges zu geben, der versündigt sich an
                  dem wahren Sinn der menschlichen Entwickelung. 
                  Das, was allein helfen kann, ist eine geistige
                  Weltanschauung, welche durch sich selbst, durch das, was sie
                  zu bieten vermag, sich in die Gedanken, in die Gefühle, in
                  den Willen, kurz in die ganze Seele des Menschen einlebt. Der
                  Glaube, den Owen gehabt hat an die Güte der Menschennatur,
                  ist nur teilweise richtig, zum anderen Teile ist er aber eine
                  der ärgsten Illusionen. Er ist insofern richtig, als in jedem
                  Menschen ein «höheres Selbst» schlummert, das erweckt
                  werden kann. Aber es kann aus seinem Schlummer nur erlöst
                  werden durch eine Weltauffassung, welche die oben genannten
                  Eigenschaften hat. Bringt man Menschen in Einrichtungen, wie
                  sie von Owen erdacht waren, dann wird die Gemeinschaft im schönsten
                  Sinne gedeihen. Führt man aber Menschen zusammen, die eine
                  solche Weltauffassung nicht haben, dann wird das Gute der
                  Einrichtungen sich ganz notwendig nach einer kürzeren oder längeren
                  Zeit zum Schlechten verkehren müssen. Bei Menschen ohne eine
                  auf den Geist sich richtende Weltauffassung müssen nämlich
                  notwendig gerade diejenigen Einrichtungen, welche den
                  materiellen Wohlstand befördern, auch eine Steigerung des
                  Egoismus bewirken, und damit nach und nach Not, Elend und
                  Armut erzeugen. - Es ist eben in des Wortes ureigenster
                  Bedeutung richtig: nur dem einzelnen kann man helfen, wenn man
                  ihm bloß Brot verschafft; einer Gesamtheit kann man nur
                  dadurch Brot verschaffen, daß man ihr zu einer Weltauffassung
                  verhilft. Es würde nämlich auch das gar nichts nützen, wenn
                  man von einer Gesamtheit jedem einzelnen Brot
                  verschaffen wollte. Nach einiger Zeit müßte sich dann doch
                  die Sache so gestalten, daß viele wieder kein Brot haben.
                  Die Erkenntnis dieser Grundsätze nimmt
                  allerdings gewissen Leuten, die sich zu Volksbeglückern
                  aufwerfen möchten, manche Illusion. Denn sie macht das
                  Arbeiten am sozialen Wohle zu einer recht schwierigen Sache.
                  Und noch dazu zu einer solchen, in der sich die Erfolge unter
                  gewissen Verhältnissen nur aus ganz kleinen Teilerfolgen
                  zusammensetzen lassen. Das meiste von dem, was heute ganze
                  Parteien als Heilmittel im sozialen Leben ausgeben, verliert
                  seinen Wert, erweist sich als eitel Täuschung und Reden, ohne
                  genügende Kenntnis des Menschenlebens. Kein Parlament, keine
                  Demokratie, keine Massenagitation, nichts von alledem kann für
                  den tiefer Blickenden eine Bedeutung haben, wenn es das oben
                  ausgesprochene Gesetz verletzt. Und alles Derartige kann dann
                  günstig wirken, wenn es sich im Sinne dieses Gesetzes verhält.
                  Es ist eine schlimme Illusion, zu glauben, daß irgendwelche
                  Abgeordnete eines Volkes in irgendeinem Parlamente etwas
                  beitragen können zum Heile der Menschheit, wenn ihr Wirken
                  nicht im Sinne des sozialen Hauptgesetzes eingerichtet ist. 
                  Wo immer dieses Gesetz in die Erscheinung
                  tritt, wo immer jemand in seinem Sinne wirkt, soweit es ihm möglich
                  ist auf dem Platze, auf den er in der Menschengemeinschaft
                  gestellt ist: da wird Gutes erzielt, und wenn es im einzelnen
                  Falle auch in einem noch so geringen Maße der Fall ist Und
                  nur aus Einzelwirkungen, welche auf solche Art zustande
                  kommen, setzt sich ein heilsamer sozialer Gesamtfortschritt
                  zusammen. - Allerdings kommt es auch vor, daß in einzelnen Fällen
                  größere Menschengemeinschaften eine besondere Anlage dazu
                  besitzen, mit ihrer Hilfe in der angedeuteten Richtung einen
                  größeren Erfolg auf einmal zu erzielen. Es gibt auch jetzt
                  schon bestimmte Menschengemeinschaften, in deren Anlagen sich
                  dergleichen vorbereitet. Sie werden es möglich machen, daß
                  mit ihrer Hilfe die Menschheit gleichsam einen Ruck, einen
                  Sprung in sozialer Entwickelung vollbringt. Dem Okkultismus
                  sind solche Menschengemeinschaften bekannt; es kann aber nicht
                  seine Aufgabe sein, über derlei Dinge öffentlich zu
                  sprechen. - Und es gibt ja auch Mittel, größere
                  Menschenmassen zu einem solchen Sprung, der wohl gar in
                  absehbarer Zeit gemacht werden kann, vorzubereiten. Was aber
                  jeder tun kann, das ist, im Sinne obigen Gesetzes in seinem
                  Bereich zu wirken. Es gibt keine Stellung eines Menschen in
                  der Welt, innerhalb welcher man das nicht kann: sie möge
                  anscheinend noch so unbedeutend oder noch so einflußreich
                  sein.
                  Das Wichtigste ist ja allerdings, daß ein
                  jeglicher die Wege sucht zu einer Weltauffassung, die sich auf
                  wahre Erkenntnis des Geistes richtet. Die anthroposophische
                  Geistesrichtung kann sich zu einer solchen Auffassung für
                  alle Menschen herausbilden, wenn sie sich immer mehr in der
                  Art ausgestaltet, wie es ihrem Inhalte und den in ihr
                  vorhandenen Anlagen entspricht. Durch sie kann der Mensch
                  erfahren, daß er nicht zufällig an irgendeinem Orte und zu
                  irgendeiner Zeit geboren ist, sondern daß er durch das
                  geistige Ursachengesetz, das Karma, mit Notwendigkeit an den
                  Ort hingestellt ist, an dem er sich befindet. Er kann
                  einsehen, daß ihn sein wohlbegründetes Schicksal in die
                  Menschengemeinschaft hineingestellt hat, innerhalb welcher er
                  ist. Auch von seinen Fähigkeiten kann er gewahr werden, daß
                  sie ihm nicht durch ein blindes Ohngefähr zugefallen sind,
                  sondern daß sie einen Sinn haben innerhalb des
                  Ursachengesetzes. 
                  Und er kann das alles so einsehen, daß diese
                  Einsicht nicht eine bloße nüchterne Vernunftsache bleibt,
                  sondern daß sie allmählich seine ganze Seele mit innerem
                  Leben erfüllt.
                  Es wird ihm das Gefühl davon aufgehen, daß er
                  einen höheren Sinn erfüllt, wenn er im Sinne seines Platzes
                  in der Welt und im Sinne seiner Fähigkeiten arbeitet. Kein
                  schattenhafter Idealismus wird aus dieser Einsicht folgen,
                  sondern ein mächtiger Impuls aller seiner Kräfte, und er
                  wird dieses Handeln in solcher Richtung als etwas so
                  Selbstverständliches ansehen, wie in einer anderen Beziehung
                  Essen und Trinken Und ferner wird er den Sinn erkennen,
                  welcher mit der Menschengemeinschaft verbunden ist, welcher er
                  angehört. Er wird die Verhältnisse begreifen, in denen seine
                  Menschengemeinschaft sich zu anderen stellt; und so werden
                  sich die Einzelgeister dieser Gemeinschaften zusammenfügen zu
                  einem geistigzielvollen Bilde von der einheitlichen Mission
                  des ganzen Menschengeschlechtes. Und von dem
                  Menschengeschlecht wird seine Erkenntnis hinüberschweifen können
                  zu dem Sinne des ganzen Erdendaseins. Nur wer sich nicht auf
                  die in dieser Richtung angedeutete Weltauffassung einläßt,
                  kann Zweifel daran hegen, daß sie so wirken muß, wie hier
                  angegeben wird. In heutiger Zeit ist freilich bei den meisten
                  Menschen wenig Neigung vorhanden, sich auf so etwas
                  einzulassen. Aber es kann nicht ausbleiben, daß die richtige
                  geisteswissenschaftliche Vorstellungsart immer weitere Kreise
                  zieht. Und in dem Maße, als sie das tut, werden die Menschen
                  das Richtige treffen, um den sozialen Fortschritt zu bewirken.
                  Man kann nicht aus dem Grunde daran Zweifel hegen, weil
                  angeblich bis jetzt keine Weltanschauung das Glück der
                  Menschheit herbeigeführt hat. Nach den Gesetzen der
                  Menschheitsentwickelung konnte in keinem früheren Zeitpunkte
                  das eintreten, was von jetzt an allmählich möglich wird:
                  eine Weltauffassung mit der Aussicht auf den angedeuteten
                  praktischen Erfolg allen Menschen zu übermitteln. 
                  Die bisherigen Weltauffassungen waren nur
                  einzelne Gruppen von Menschen zugänglich. Aber was bisher im
                  Menschengeschlecht an Gutem geschehen ist, rührt doch von den
                  Weltauffassungen her. Zu einem allgemeinen Heil kann nur eine
                  solche Weltauffassung führen, die alle Seelen ergreifen und
                  das innere Leben in ihnen entzünden kann. Das aber wird die
                  geisteswissenschaftliche Vorstellungsart überall imstande
                  sein, wo sie ihren Anlagen wirklich entspricht. - Natürlich
                  darf nicht einfach der Blick auf die Gestalt gerichtet werden,
                  welche diese Vorstellungsart bereits angenommen hat; um das
                  Gesagte als richtig anzuerkennen, ist notwendig, einzusehen,
                  daß sich die Geisteswissenschaft zu ihrer hohen Kulturmission
                  erst hinaufentwickeln muß.
                  Bis heute kann sie das Antlitz, das sie
                  einstmals zeigen wird, aus mehreren Gründen noch nicht
                  aufweisen. Einer dieser Gründe ist der, daß sie erst
                  irgendwo Fuß fassen muß. Sie muß sich deshalb an eine
                  bestimmte Menschengruppe wenden. Das kann naturgemäß keine
                  andere sein, als diejenige, welche durch die Eigenart ihrer
                  Entwickelung nach einer neuen Lösung der Welträtsel
                  Sehnsucht hat und welche durch die Vorbildung der in ihr
                  vereinigten Personen einer solchen Lösung Verständnis und
                  Anteil entgegenbringen kann. Selbstverständlich muß die
                  Geisteswissenschaft ihre Verkündigungen vorläufig in eine
                  solche Sprache kleiden, daß diese der gekennzeichneten
                  Menschengruppe angepaßt ist. In dem Maße, als sich weiterhin
                  die Bedingungen ergeben, wird die Geisteswissenschaft auch die
                  Ausdrucksformen finden, um noch zu anderen Kreisen zu
                  sprechen. Nur jemand, der durchaus fertige starre Dogmen haben
                  will, kann glauben, daß die gegenwärtige Form der
                  geisteswissenschaftlichen Verkündigung eine bleibende, oder
                  etwa gar die einzig mögliche sei. - Gerade weil es sich bei
                  der Geisteswissenschaft nicht darum handeln kann, bloß
                  Theorie zu bleiben, oder bloß die Wißbegierde zu
                  befriedigen, muß sie in dieser Art langsam arbeiten. Zu ihren
                  Zielen gehört eben das charakterisierte Praktische des
                  Menschheitsfortschrittes. Sie kann aber diesen
                  Menschheitsfortschritt nur bewirken, wenn sie die wirklichen
                  Bedingungen dazu schafft. Und diese Bedingungen können nicht
                  anders herbeigeführt werden, als wenn Mensch nach Mensch
                  erobert wird. Nur wenn die Menschen wollen, schreitet die Welt
                  vorwärts. Daß sie aber wollen, dazu ist bei jedem die innere
                  Seelenarbeit notwendig. Und diese kann nur Schritt für
                  Schritt geleistet werden. Wäre das nicht der Fall, so würde
                  auch die Theosophie auf sozialem Gebiete Hirngespinste aufführen
                  und keine praktische Arbeit tun. Auf noch weiteres einzelne
                  soll demnächst eingegangen werden. 
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